Interview · Michael Kellner

Koalition: „Die Angst vor Veränderung muss man ernst nehmen“

Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist einer der Hauptverhandler der möglichen Ampel-Bundesregierung. Er erklärt, was auf die Bürger zukommen könnte.

23.10.2021

Von Dorothee Torebko

Michael Kellner ist im thüringischen Gera geboren. Der 44-Jährige studierte Politikwissenschaften in Potsdam und trat 1997 bei den Grünen ein. Seit acht Jahren ist er Politischer Bundesgeschäftsführer und gehört damit dem Vorstand an. Er gilt als Mastermind bei den Grünen, ist etwa für das neue Grundsatzprogramm verantwortlich. 2021 kandidierte er zum ersten Mal für den Bundestag und zog für seinen Wahlkreis in Uckermark/Barnim (Brandenburg) ins Parlament ein. Kellner ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Berlin und der Uckermark. Foto: Christophe Gateau/dpa

Michael Kellner ist im thüringischen Gera geboren. Der 44-Jährige studierte Politikwissenschaften in Potsdam und trat 1997 bei den Grünen ein. Seit acht Jahren ist er Politischer Bundesgeschäftsführer und gehört damit dem Vorstand an. Er gilt als Mastermind bei den Grünen, ist etwa für das neue Grundsatzprogramm verantwortlich. 2021 kandidierte er zum ersten Mal für den Bundestag und zog für seinen Wahlkreis in Uckermark/Barnim (Brandenburg) ins Parlament ein. Kellner ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Berlin und der Uckermark. Foto: Christophe Gateau/dpa

Berlin. Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner ist eine der wichtigsten Personen bei den Koalitionsverhandlungen. Er entscheidet federführend mit, über seinen Tisch geht am Ende der Koalitionsvertrag. Im Gespräch erklärt er, auf welchen Veränderungsprozess sich die Bürger einstellen müssen und welche klimaschädlichen Subventionen die Grünen abbauen wollen.

Im Sondierungspapier ist von einem Transformationsprozess die Rede. Es wird ein Vergleich gezogen zu den Erfahrungen der Ostdeutschen, die „Brüche und Enttäuschungen“ während der Wende erlebten. Auf welche Brüche und Enttäuschungen müssen sich die Bürger heute einstellen?

Michael Kellner: Es geht darum, aus den massiven Umbrüchen der 1990er-Jahre in Ostdeutschland die richtigen Lehren zu ziehen. Die Klimakrise zwingt uns zu Veränderungen, damit wir, vor allem aber unsere Kinder und Enkelkinder, auch in Zukunft in Freiheit und Wohlstand leben können. Die Fehler von damals, die Menschen zu übergehen, dürfen sich jetzt nicht wiederholen. Es muss sozial gerecht zugehen, einschneidende Veränderungen müssen abgefedert werden. Wie das geht, treibt uns um.

Und wie funktioniert das?

Im Sondierungspapier sind viele Punkte aufgeführt, die gerade für Ostdeutschland gut und wichtig sind: zwölf Euro Mindestlohn zum Beispiel, denn hier sind besonders viele Menschen vom Mindestlohn abhängig. Die Kindergrundsicherung hilft natürlich in Ost und West, aber in Ostdeutschland eben nochmal stärker, weil hier die Armutsquote höher ist.

Wird die Transformation denn so krass wie die Wende-Zeit?

Sie ist nicht vergleichbar mit der friedlichen Revolution. Aber klar ist: Wir stehen vor einem großen industriellen Umbau. Vieles muss sich wandeln, damit wir künftig gut leben können. Wir brauchen eine Antriebswende in der Mobilität. Wir brauchen klimaneutrale Gebäude; Stahlwerke werden künftig mit erneuerbarem Strom und grünem Wasserstoff betrieben. Das sind massive, aber nötige Veränderungen.

Der frühzeitige Kohleausstieg macht den Menschen Angst. Wie wollen Sie damit umgehen?

Als Ausgleich für den Kohleausstieg, den wir möglichst schon auf 2030 vorziehen möchten, werden wir die betroffenen Regionen unterstützen – finanziell und durch gezielte Infrastrukturmaßnahmen. Mit dem Flächenziel von 2 Prozent Windkraft und der Solarpflicht bei gewerblichen Neubauten haben wir ausreichend Alternativen zur Verfügung. Die berechtigte Angst vor Veränderung muss man ernst nehmen und mit guten Antworten kommen.

Welche Antworten?

In den Braunkohleregionen wie der Lausitz erlebe ich, wie das gelingen kann: Dort entstehen zukunftsfähige Arbeitsplätze, beispielsweise in der Batterieproduktion bei BASF. Dafür werden bereits jetzt Fachkräfte aus den Kohlekraftwerken abgeworben. Das heißt, die zukunftsfesten Jobs entstehen vor Ort.

Wozu gab es dann die Kohlekommission?

Die alte Bundesregierung hat das Ergebnis der Kohlekommission selbst nicht eingehalten. Zudem gab es im April eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die besagt, dass die Anstrengungen der vergangenen Bundesregierung für den Klimaschutz nicht ausreichen. Oder einfach gesagt: Wir können die Klimaziele nicht erreichen, wenn die Kohle bis 2038 läuft.

Sie wollen den Ausbau der Erneuerbaren Energien beschleunigen. Wie wollen Sie die Kommunen stärker beteiligen?

Heute haben wir im Erneuerbare-Energien-Gesetz eine Kann­-Bestimmung bei der finanziellen Beteiligung: Sie besagt, dass Kommunen an den Einnahmen aus Windkraft- und Freiflächensolaranlagen beteiligt werden können. Diese Bestimmung wollen wir zu einer Muss-Bestimmung ausweiten. Damit profitieren die Kommunen ganz konkret von der Energiewende, denn sie bekommen jährlich feste Einnahmen über die Standorte von Windrädern und Solaranlagen.

Damit der Ausbau klappt, wollen Sie die Zeit für Planung- und Genehmigungsverfahren halbieren. Wie soll das gehen?

Damit es schneller vorangeht, wollen wir mehrere Genehmigungsstufen zusammenfassen. Dazu ein Beispiel aus dem Verkehrsbereich: Wir haben in Deutschland noch viele Strecken, auf denen Dieselloks fahren. Wenn man die elektrifizieren will, muss man neue Oberleitungen bauen und dafür ein neues Genehmigungsverfahren einleiten. Dabei liegen Gleisbett und Schiene schon da. Das kann man mit einem Schlag ändern und die Elektrifizierung beschleunigen.

50 Milliarden pro Jahr werden Ihren Berechnungen zufolge künftig benötigt. Wie wollen Sie das Geld dafür zusammenkriegen?

Alle drei Parteien haben sich verpflichtet, dass wir die Investitionen stemmen müssen. Wir haben im jetzigen Haushalt Spielräume für Investitionen. Die wollen wir vollständig ausschöpfen. Wir machen jetzt einen Kassensturz, um zu schauen, wie groß diese sind. Ich bin mir sicher, dass wir die Investitionen gestemmt bekommen. Der Wille aller drei Parteien ist da und die Investitionen werden unsere Wirtschaft ankurbeln.

Welche klimaschädlichen Subventionen wollen Sie abschaffen?

Bis heute haben wir ein Dienstwagenprivileg, das den Kauf von fossilen Spritschluckern fördert. Das wollen wir ändern, indem wir es auf E-Mobilität ausrichten. Das führt dann dazu, dass wir sehr schnell einen Gebrauchtwagenmarkt für E-Autos bekommen, die wirklich erschwinglich sind. Auch das Dieselprivileg ist ein Relikt aus alten Zeiten. Das wird man nicht sofort abschaffen können, aber zumindest schrittweise. Denn wer in guter Absicht einen Diesel gekauft hat, darf jetzt nicht im Regen stehen.

Wenn die Subvention für Diesel abgeschafft wird, wird es noch teurer als jetzt schon. Wie wollen Sie das dem Bürger erklären?

Der beste Weg, um von teuren Heizöl- und Spritpreisen wegzukommen, ist der Ausbau von erneuerbaren Energien. Sie sind billiger und marktfähiger – und wir mindern damit unsere Abhängigkeit von anderen Ländern. Deswegen muss die Politik den Ausbau beschleunigen. Der Elektromobilität gehört die Zukunft. Natürlich braucht es eine Übergangsphase, schließlich ist ein neues Auto für die allermeisten eine große Kostenfrage.

Wollen Sie die Pendlerpauschale für Autofahrer abschaffen?

Mein Wahlkreis liegt im ländlichen Raum und ich kenne viele Menschen, die zur Arbeit pendeln. Man braucht dort ein Auto. Diese Menschen will ich nicht schlechter stellen.

Sie haben den Wahlkampf federführend zu verantworten. Fragen Sie sich manchmal, was Sie hätten anders machen sollen?

Natürlich. Klar sind Fehler passiert und natürlich habe ich mich darüber geärgert und wir werden aus diesen Fehlern lernen.

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Erstellt:
23.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 52sec
zuletzt aktualisiert: 23.10.2021, 06:00 Uhr

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