Renate Angstmann-Koch über einen denkwürdigen Wahlabend

Der neue Bundestag braucht Härte und Gelassenheit

Im neuen Bundestag wird nichts mehr sein wie bisher. Schon im Wahlkampf war zu spüren, dass die Hemmschwellen sinken, dass der Ton ruppiger wird, demokratische Sitten verrohen. Der AfD gelang es, die politische Debatte nach rechts zu verschieben, die Unionsparteien vor sich her zu treiben und manche asylpolitische Kehrtwende zu erzwingen.

25.09.2017

Von Renate Angstmann-Koch

Wie es nun nach Vorstellung der Partei mit über 90 Abgeordneten im Parlament weitergeht, kündigte der stellvertretende AfD-Sprecher Alexander Gauland gleich nach der ersten Hochrechnung an: „Die Bundesregierung kann sich warm anziehen. Wir werden sie jagen. Wir werden uns unser Volk und unser Land zurückholen.“

Menschen jagen – eine Vokabel aus unseliger Zeit. Der Bundestag muss sich gegen Provokationen und inszenierte Skandale wappnen. Bis zu 13 Prozent der Wähler bundesweit, 12,5 Prozent im Land und immer noch 10 Prozent im Wahlkreis Tübingen hatten offenbar kein Problem damit, eine nationalistische, rechtsradikale und zum Teil offen rassistische Kraft rechts von CDU und CSU anzukreuzen. Immer stärker wird die AfD von Nationalisten geprägt.

Ihr Tübinger Kandidat Dubravko Mandic bekennt sich ungeniert zum rechten Flügel. Dennoch erzielte er mit 8,7 Erststimmen-Prozent im Wahlkreis ein kaum schwächeres Ergebnis als seine Partei. Am stärksten punktete die AfD in Börstingen. Dort kam sie auf 23 Prozent, brachte also fast ein Viertel der Wähler auf ihre Seite. Weit unterdurchschnittlich liegt ihr Ergebnis dagegen in Tübingen, wo sie auf 4,1 Prozent der Erst- und 5,2 Prozent der Zweitstimmen kam.

Der Zuwachs der AfD ging überwiegend auf Kosten der CDU. Es gelang der Partei gerade in der Endphase des Wahlkampfs, regelrecht Hass auf Bundeskanzlerin Angela Merkel zu lenken. Und die Tübinger Abgeordnete Annette Widmann-Mauz, Bundesvorsitzende der Frauen Union, wirkt offenbar ebenfalls nicht konservativ genug, um Menschen, denen die Zukunft zu ungewiss und die Gesellschaft zu bunt, zu offen und zu liberal erscheint, weiterhin politische Heimat zu bieten.

Obwohl die CDU prozentual stärker verlor, trifft die SPD ihr Minus von 3,1 Prozent der Erst- und 4,8 Prozent der Zweitstimmen im Wahlkreis noch härter. Die Grünen schoben sich an den Sozialdemokraten vorbei und verbannten sie mitsamt ihrem Kandidaten auf Platz drei. Keine Frage war es am Wahlabend für Martin Rosemann, bei einem solchen Absturz einer Regierungsbeteiligung die Opposition vorzuziehen.

Bei all diesen Erschütterungen ist es umso erstaunlicher, dass für den Wahlkreis Tübingen formal alles beim Alten bleibt. Voraussichtlich wird er im neuen Bundestag von denselben vier Abgeordneten vertreten wie in der zu Ende gehenden Legislaturperiode. Ein fünfter – FDP-Kandidat Christopher Gohl – konnte sich heute nacht bei Redaktionsschluss ebenfalls noch Hoffnungen machen.

Der Wahlkreis Reutlingen wird die Zahl seiner Abgeordneten aller Voraussicht nach verdoppeln. CDU-Mann Michael Donth und Beate Müller-Gemmeke von den Grünen bleiben im Parlament. FDP-Kandidat Pascal Kober und Jessica Tatti (Linke) kommen hinzu. So viele Abgeordnete aus der Region in Berlin: Das ist die gute Nachricht des Wahlsonntags.

Dennoch: Der Bundestag wird künftig ein anderer sein, und mit ihm auch die Gesellschaft. Doch sollte man eines nicht vergessen: 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler bundesweit und sogar 90 Prozent im Wahlkreis haben sich gerade nicht für die AfD entschieden. Dies vor Augen könnte im Parlament nach der Hysterie des Wahlkampfs auch rasch wieder Gelassenheit einkehren.