Wahl

Der lange Weg in den Bundestag

44 Kleinparteien haben die erste Hürde für den 26. September genommen – sie wurden als Parteien anerkannt. Ein Blick ins Zwischendeck der deutschen Demokratie.

10.07.2021

Von MICHAEL HEIDER

Teilnehmer des Bundeswahlausschusses sitzen im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages. Foto: Christoph Soeder/dpa

Teilnehmer des Bundeswahlausschusses sitzen im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages. Foto: Christoph Soeder/dpa

Berlin. Seine Hemdsärmel hat Bundeswahlleiter Georg Thiel hochgekrempelt, fast so als wolle er besondere Tatkräftigkeit demonstrieren. Zu tun gibt es am Donnerstag und Freitag im Anhörungssaal des Marie-Elisabeth-Lüders-Haus jedenfalls genug. Thiel, im Hauptberuf Präsident des Statistischen Bundesamtes, hat zum Bundeswahlausschuss geladen. Dort wird in einer zweitägigen Sitzung über die Zulassung der Parteien zur Bundestagswahl entschieden. Ganze 87 politische Vereinigungen haben ihre Beteiligung angezeigt – so viele wie nie zuvor.

Anders als die etablierten Parteien, müssen sich solche, die nicht im Bundestag sitzen oder mit wenigstens fünf Abgeordneten in einem Landesparlament vertreten sind, für eine Zulassung zur Wahl bewerben. So schreibt es das Parteiengesetz vor. Es sind dort fixierte Kriterien wie die Festigkeit der Organisation, die Mitgliederanzahl und die Art des öffentlichen Hervortretens, die im Bundeswahlausschuss auf den Prüfstand kommen.

Dass derart viele Gruppierungen vorstellig wurden – zur Bundestagswahl 2017 waren es noch 63, zugelassen wurden 48 –, führt der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer auf gesenkte Zulassungshürden zurück. Wer an der Bundestagswahl teilnehmen will, muss Unterstützer vorweisen: Pro Landesliste entweder 0,1 Prozent der Wahlberechtigten, maximal aber 2000 Unterschriften. Nur waren in der Corona-Pandemie die Innenstädte wie leergefegt. An Unterschriften zu kommen, gestaltete sich für kleine Parteien also durchaus schwierig. Im Mai senkte die Bundesregierung deshalb die erforderliche Anzahl von 2000 auf 500 Unterschriften. „Das ist natürlich ein Anreiz für Kleinstparteien, es dieses Jahr zu versuchen“, erklärt Politikwissenschaftler Niedermayer.

Eine, die es versuchte, ist die 2018 gegründete paneuropäische Bewegung Volt. Mit Erfolg: Sie hat vom Bundeswahlausschuss grünes Licht bekommen. Mitglied Valerie Sternberg-Irvani, die in Berlin auf Listenplatz 1 kandidiert, zeigt sich über die abgesenkten Hürden erleichtert. „Wir waren ziemlich schnell durch. Für Berlin bereits im Mai.“ Das Werben um Unterstützung glich dennoch einem Kraftakt, erklärt die 30-Jährige. Denn auch für die Direktkandidaten waren Unterschriften nötig. Genau wie für die Abgeordnetenhauswahl und die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung. „Auf fremde Leute zuzugehen und darum zu bitten, gleich viermal zu unterschreiben, ist fast unmöglich“, sagt sie. Trotz allem empfinde sie die Regelungen als fair.

Ähnlich sieht es die Parteivorsitzende von Volt Deutschland, Friederike Schier. Zwar glichen die Anforderungen für eine Wahlzulassung gelegentlich einem „Formalitätszirkus“. Dem Sammeln der nötigen Unterschriften kann die 23-Jährige mittlerweile aber durchaus Positives abgewinnen: „So muss sich eine neue Partei auch potenziellen Wählerinnen und Wählern gegenüber vorstellen. Und das fängt damit an, mit den Menschen zu sprechen.“

Nach Unterschriften von Unterstützern buhlte auch Guido Klamt schon häufiger. Seit Jahrzehnten engagiert er sich in der Ökologisch-Demokratischen Partei. Auch sie wurde erneut als Partei anerkannt. Im Vorfeld zeigt sich der Landeschef der ÖDP in Baden-Württemberg vom Umgang mit Kleinparteien aber entnervt: „Wir müssen immer wieder aufzeigen, dass es ein berechtigtes Interesse gibt, die ÖDP zur Wahl zuzulassen. Aber vierzig Jahre lang bei Wahlen anzutreten, was kann man denn mehr zeigen?“

Abgesehen von den formalen Anforderungen gibt es aus Sicht von Valerie Sternberg-Irvani aber noch eine wesentlich höhere Hürde für kleine Parteien: Im öffentlichen Diskurs kommen sie so gut wie nicht vor. „Das Gehör wird den etablierten Parteien geschenkt. Wir müssen schon sehr laut rufen, um wahrgenommen zu werden.“ Hinzu komme, dass unter potenziellen Wählern mitunter die Sorge vorhanden sei, eine Stimme für eine Kleinpartei sei verschenkt. „Irgendwann muss man uns eine Chance geben“, entgegnet die Volt-Kandidatin dann. „Außerdem wirken sich die Stimmen auch auf die Parteienfinanzierung aus.“

Tatsächlich sind Wahlergebnisse unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde nicht automatisch unerheblich. Eine Partei, die bei einer Europa- oder Bundestagswahl 0,5 Prozent oder bei einer Landtagswahl ein Prozent der für ihre Listen abgegebenen gültigen Stimmen bekommt, hat Anspruch auf staatliche Unterstützung. Jährlich stehen ihr ein Euro für jede auf sie entfallende Stimme zu. Ab einer Gesamtzahl von vier Millionen Stimmen sinkt der Betrag auf je 0,83 Cent. Neben Mitgliedsbeiträgen und Spenden ist das eine wichtige finanzielle Ressource.

Wer sich im September über entsprechende Ergebnisse freuen kann, bleibt abzuwarten. Die Auswahl fürs Wahlvolk dürfte jedenfalls groß werden. Am Ende seiner zweitägigen Sitzung hat der Bundeswahlausschuss 44 Vereinigungen als Parteien anerkannt. Welche davon auf den Stimmzetteln vertreten sein werden, hängt nun noch davon ab, ob und in welchen Ländern gültige Wahlvorschläge eingereicht werden.

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Erstellt:
10.07.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 10.07.2021, 06:00 Uhr

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