Tübingen/Illerrieden · Imbiss

Der deutsche Dönerpionier Nevzat Salim

Nevzat Salim behauptet, den Döner vor 50 Jahren nach Deutschland gebracht zu haben – und zwar beim Reutlinger Stadtfest. Das TAGBLATT besuchte den ehemaligen Inhaber des Tübinger Ratskellers nun in Illerrieden, wo er eine Revolution des Döners plant.

15.06.2019

Von Moritz Hagemann

Nevzat Salim in seiner „Latino Shisha Bar“. Bild: Moritz Hagemann

Nevzat Salim in seiner „Latino Shisha Bar“. Bild: Moritz Hagemann

Sein Vater mit dem Messer, Nevzat Salim dahinter: Das Bild – das aus dem Jahr 1969 vom Reutlinger Straßenfest stammen soll – soll der Beweis sein, dass der damals 17-Jährige den Döner Kebab nach Deutschland brachte. Privatbild/Repro: Moritz Hagemann

Sein Vater mit dem Messer, Nevzat Salim dahinter: Das Bild – das aus dem Jahr 1969 vom Reutlinger Straßenfest stammen soll – soll der Beweis sein, dass der damals 17-Jährige den Döner Kebab nach Deutschland brachte. Privatbild / Repro: Moritz Hagemann

Schnell wirft sich Nevzat Salim noch in Schale, zieht Hemd und Krawatte an, „ich muss ja gut aussehen, wenn mal wieder die Presse da ist“, sagt er und grinst. Der 66-Jährige ist der Grund, warum immer wieder Medienvertreter nach Illerrieden kommen. Nur wenige Meter von der bayrischen Grenze entfernt hat er sich niedergelassen; der Mann, der behauptet, den Döner Kebab 1969 nach Deutschland gebracht zu haben – und zwar beim Reutlinger Stadtfest, das damals noch Straßenfest hieß.

Salim stammt aus der türkischen Metropole Bursa, die als Geburtsstadt des Döners gilt (siehe Infobox). Dort habe er bei Iskender Döner als Jugendlicher schon ausgeholfen, ehe die Familie Mitte der 60er Jahre nach Deutschland aussiedelte. Zunächst nach Göppingen, der Vater arbeitete in einer Textilfabrik, dann weiter nach Reutlingen. Nevzat Salim wuchs in Pfullingen auf. Über den türkischen Verein seien damals private Treffen organisiert worden, bei denen er manchmal Döner gemacht habe. Und als der Vereinsvorsitzende fragte, ob er und sein Vater nicht beim Stadtfest Döner verkaufen möchten, zögerten sie nicht – das soll 1969 gewesen sein.

Das TAGBLATT ist mit Salim in seiner „Latino Shisha Bar“ verabredet, die am Ortsrand von Illerrieden bei Ulm liegt. Am frühen Nachmittag ist das Lokal noch leer, die Ordner und Umschläge aber voll, mit denen Salim seine Behauptung beweisen will. Da wäre zum einen ein Bild (oben), das vom Reutlinger Stadtfest stammen soll. Besonders der Grill sei ein Indiz: „Sowas gab es in Deutschland damals nicht.“ Sein Vater und er seien mit dem Ford Granada in die Türkei gefahren, um die Maschine zu besorgen. Und dann wären da die Wecken, die Salim nur Semmeln nennt, und die kurze Zeit später zu Doppel-Wecken wurden, nachdem man der Bäckerei den Döner vorstellte. Denn das türkische Fladenbrot kannte hier noch niemand. Für vier Mark gab es den Lamm-Rinder-Döner im Weckle. „Das war viel Geld, aber die Leute haben es bezahlt.“ Und dazu gab’s Tomaten, Petersilie und Zwiebeln. „Die Soße kam erst später hinzu“, sagt er.

Salim erinnert sich noch sehr genau an jenen Tag in Reutlingen. An die Kinder, die den Dönerspieß für einen riesigen Leberkäse hielten; an den Elektriker, der drei oder vier Mal zum Stand kommen musste, weil der Grill für die Leitung eine Herausforderung war; an die Kunden, die zurückgekommen sind und nochmals vier Mark bezahlten, um nur Fleisch kosten zu können. Er zieht weitere Bilder hervor, die ihn am Dönergrill, an improvisierten Ständen zeigen.

Salim spricht verständliches Deutsch, hin und wieder rutscht ihm sogar ein schwäbisches Wort heraus. „Wenn ich auf der Autobahn Tübinger oder Reutlinger Kennzeichen sehe, freue ich mich“, sagt er. Das bedeute auch Heimat für ihn. Salim führte in den 80er Jahren den Ratskeller in der Tübinger Haaggasse, später das Reutlinger Rebstöckle und das Restaurant Hohenzollern in Bisingen. Als er 1996 den Gastronomie-Bereich des damals neuen Spaßbades Nautilla in Illertissen übernahm, siedelte er um und baute in Illerrieden. Auch Soraya, eine seiner drei Töchter, ist in der Gastronomie tätig und führt das Dolce in der Reutlinger Gartenstraße. Er ist gelernter Koch und gibt an, sich auch im Fleischerhandwerk bestens auszukennen. Doch Koch zu sein – ein bisschen, sagt er, bereue er das. Denn so blieb der Döner mehr Hobby als Beruf, eine Imbissbude hatte Salim nie, zunächst sei ihm das als Gastarbeiter gar nicht so einfach möglich gewesen, dann habe er „die Jahre in der deutschen Küche verbracht“.

Nevzat Salim schneidet als junger Kerl Döner – nach eigener Aussage hier vor dem Reutlinger Heimatmuseum. Privatbild/Repro: Moritz Hagemann

Nevzat Salim schneidet als junger Kerl Döner – nach eigener Aussage hier vor dem Reutlinger Heimatmuseum. Privatbild / Repro: Moritz Hagemann

Dass er der deutsche Dönerpionier sein könnte, wurde ihm erst 2012 richtig bewusst. Damals kam er aus dem Thailand-Urlaub zurück, als ihn ein Freund auf einen Artikel aus der „Bild“-Zeitung aufmerksam machte. Darin hieß es, dass der Döner Anfang der 70er Jahre in Berlin die Integration schaffte. „Da hab’ ich gemerkt, ich war früher dran“, sagt Salim. Anschließend suchte er nach Bildern, ließ sich von seiner Schwester aus der Türkei welche schicken. „Es hat gedauert, bis wir Beweise hatten.“

Oft werden Mehmet Aygün (1971) oder Kadir Nurman (1972) als diejenigen bezeichnet, die den Döner nach Deutschland gebracht hatten. Der Verein türkischer Döner-Hersteller in Europa hält Nurman für denjenigen, der als erstes den Döner Kebab in Deutschland angeboten hat, wie der Vereinsvorsitzende Gürsel Ülber dem TAGBLATT sagt: 1972 am Bahnhof Zoo in Berlin. Warum der Verein ihm glaubt? „Er konnte seine Gewerbeanmeldung vorlegen“, sagt Ülber. „Die anderen Beweise sind für uns nicht eindeutig.“ Auch Nurman hatte einen schwäbischen Touch, kam als Gastarbeiter nach Deutschland und arbeitete zunächst bei Daimler in Stuttgart. 2013 starb Nurman mit 80 Jahren. „Ich möchte gar nicht über Berlin reden“, sagt Salim. Es sei Jedermanns Recht, die Rolle des Erstdagewesenen zu beanspruchen.

Auch auf dem Tübinger Marktplatz baute Nevzat Salim seinen Dönerstand auf. Im Hintergrund links ist die Kreissparkasse zu sehen. Privatbild/Repro: Moritz Hagemann

Auch auf dem Tübinger Marktplatz baute Nevzat Salim seinen Dönerstand auf. Im Hintergrund links ist die Kreissparkasse zu sehen. Privatbild / Repro: Moritz Hagemann

Salim wurde vor einigen Jahren dann auch beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) vorstellig, um seine Version der Dönergeschichte zu erzählen. Daran erinnert sich der für Baden-Württemberg verantwortliche Dehoga-Pressesprecher Daniel Ohl noch. „Wir haben das sehr ernst genommen, aber auch von der heiteren Seite betrachtet“, sagt er. Schließlich sei es müßig darüber zu streiten, wer tatsächlich der erste war: „Auch bei der Currywurst gibt es ja zum Beispiel viele Väter und Mütter.“ Der Dehoga betreibe auch keine Geschichtsforschung, „wir verfolgen das nicht mit der Genauigkeit eines Historikers“. Es lasse sich, so Ohl, heute wahrscheinlich gar nicht beweisen, wer den Döner nach Deutschland gebracht hat.

So viel lässt sich aber sagen: Sollte Nevzat Salims Foto vom Reutlinger Straßenfest aus dem Jahre 1969 stammen, dann wäre er mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich der Überbringer des Döners nach Deutschland gewesen – der Zeitpunkt des Bildes ist der entscheidende Punkt. „Warum sollte ich lügen?“, fragt er. „Ich erzähle meine Geschichte, so, wie es wirklich war. Von anderen habe ich noch keine Bilder gesehen.“ Auf Nachfrage will und kann das Reutlinger Stadtarchiv Salims Geschichte weder bestätigen, noch ausschließen. Fakt sei, dass auf dem obigen Bild die Reutlinger Stadtfahne erkennbar ist und die Kulisse dem Marktplatz entsprechen könnte, so ein Mitarbeiter. Aber: Ob es 1969 ein Straßenfest beziehungsweise Stadtfest gab, lasse sich nicht zweifelsfrei belegen.

Und wenn es nach ihm geht, ist seine Geschichte rund um den Döner noch nicht vorbei. Salim will seine Bar in Illerrieden loswerden, „ich schaue mich um nach einer Nachfolge“, sagt er. Er genieße zwar das Leben unter Menschen, die ihn jung halten, wie er lächelnd erzählt. Doch der gelernte Koch hat in den vergangenen Jahren eine neue Form des Döners entwickelt, „eine Revolution“, wie er sagt. Er zückt einen blauen Ordner, darunter einige Schreiben des Offenburger BAV Instituts für Hygiene und Qualitätssicherung. Eines beweist: Salims Rindfleischmischung blieb für mehr als zwei Wochen genießbar – und zwar ohne Kühlung.

Über zweieinhalb Stunden dauert das Gespräch mit dem TAGBLATT, es geht fast mehr um die Pläne des 66-Jährigen als um das, was in der Vergangenheit war. Über einen befreundeten Metzger hatte er Zugang zu Geräten, um seinen Döner entwickeln zu können. Der Clou: Er enthält kein Phosphat (worüber 2017 sogar im EU-Parlament eine Diskussion entflammte), kein Bindemittel, der blaue Ordner bestätigt das – die genaue Zusammensetzung bleibt allerdings geheim. „Es soll etwas ganz Neues werden“, sagt Salim, der „vielleicht noch 2019, aber sicher 2020“ durchstarten möchte. Momentan sucht er nach Investoren, die ihn neben seiner Tochter Dilara bei seinem Vorhaben unterstützen. Schließlich will er den Döner für Jedermann anbieten, „für Sportler, für Diabetiker, auch für Frauen, die schreckt es bisher oft ab“, sagt er. Er will sein Fleisch auch in den Supermarkt bringen. Wenn Salim seine Geschichten und Vision erzählt (und das tut er mit Leidenschaft), könnte man ihn auch für einen Hochstapler halten. Doch er lehnt sich dann zurück, seine Augen scheinen zu funkeln, der Blick schweift ab. Wieder und wieder greift er seinen blauen Ordner, in dem die Testergebnisse dokumentiert sind. Dieser Mann hat tatsächlich noch Großes vor.

Rotkraut und Elektromesser: No-Gos

Generell plädiert er dafür, eine Art Dönerschule zu eröffnen, die jeder in vier Wochen durchlaufen sollte, bevor ein Imbiss eröffnet werden kann. Qualität, sagt er, sei entscheidend. „Die meisten Dönermänner meinen es gut, aber nicht alle wissen über die Hygiene Bescheid“, sagt er. Salim würde niemals einen Dönerspieß mit einem elektronischen Gerät schneiden, sondern immer mit einem Handmesser. Denn zu dünne Scheiben nehmen den Eiweißgeschmack. Und noch etwas sei im Döner für ihn ein No-Go: Rotkraut! „Das ist das Schlimmste!“, sagt er. „Es verfälscht so den Geschmack, dass man nicht einmal mehr Gammelfleisch herausschmecken würde.“ Er führt das auf das griechische Gyros zurück, zu dem Kraut mit seiner säuerlichen Note passt. Leider, sagt Salim, sei das auf den Döner übertragen worden. Das perfekte Produkt wird für ihn auch mit angedünsteten Zwiebeln serviert. „Sonst kann das ja kein Geschäftsmann essen.“ Wer kennt sie nicht, die Zwiebelfahne?

In den vergangenen Monaten und Jahren, so erzählt er es, meldeten sich bei ihm Journalisten aus Russland und den USA, erst vor einigen Wochen eine Mitarbeiterin von „Canal+“ in Frankreich. Zuletzt drehte der Südwestrundfunk in Illerrieden, wofür Salim vor seiner Bar einen Pavillon aufstellte und stundenlang Döner grillte. Manchmal sei ihm die Aufmerksamkeit zuviel, sagt er, andererseits scheint er sie auch zu genießen. Eines jedenfalls hat er sich vor dem Hintergrund seiner „Revolution“ vorgenommen: „Ich habe jetzt einen Namen in der Branche, den will ich nicht in den Mülleimer schmeißen.“

Nevzat Salim in seiner „Latino Shisha Bar“. Bild: Moritz Hagemann

Nevzat Salim in seiner „Latino Shisha Bar“. Bild: Moritz Hagemann

Die Geschichte des Döners

Die ersten Hinweise auf den Döner stammen vom 16. Juni 1836: „Unter dem Halbmond“ heißt das Buch, in dem die Schriften aus dem Tagebuch von Helmuth Graf von Moltke dokumentiert sind. Der damalige Militärberater im Osmanischen Reich schrieb an jenem Tag von einem Mittagsmahl „ganz türkisch beim Kiebabtschi“. Dabei sei auf einer hölzernen Schiene der Kiebab erschienen, „oder kleine Stückchen Hammelfleisch, am Spieß gebraten und in Brotteig eingewickelt“. Von Moltkes Urteil: „Ein sehr gutes, schmackhaftes Gericht.“ Damals wurde der Spieß jedoch nicht vertikal gegrillt, sondern horizontal. Diese vertikale Idee kam zwei Köchen wenig später parallel voneinander: Hamdi aus Kastamonu im Norden der Türkei und Iskender aus Bursa (nachdem der Döner dort auch benannt ist) etwa 350 Kilometer weiter westlich. Aus Bursa stammt auch Nevzat Salim, der in Reutlingen 1969 den ersten Döner in Deutschland verkauft haben will. In Istanbul, so ist es überliefert, soll der Döner Kebab ab in den 1940er Jahren vereinzelt angeboten worden sein.

Zahlen, bitte!

Wie populär ist der Döner in Deutschland? Genaue Zahlen sind schwierig zu bekommen, weil manche Verkäufer als Restaurants, andere als Imbissbuden gemeldet sind. Der Verein türkischer Döner-Hersteller in Europa geht laut seines Vorsitzenden Gürsel Ülber davon aus, dass es über 25 000 Dönerbuden in Deutschland gibt. Alleine in Tübingen und den Teilorten sind es über 20, in Lustnau eröffnete zuletzt ein neuer Imbiss (geführt von einstigen „Kalender“-Mitarbeitern), in der Mühlstraße demnächst der nächste. Der tägliche Fleischbedarf, so Ülber, liege hierzulande bei 400 Tonnen.