Musikmarkt

Der Zufall ist ein mieser DJ: Spotify schafft Shuffle-Funktion für Alben ab

Adele sei Dank: Der Streaming-Riese Spotify deaktiviert die Shuffle-Funktion bei Alben – die eine Beleidigung für jeden Künstler und Hörer war.

24.11.2021

Von Marcus Golling

Auf Vinyl hat „30“ von Adele (wie jedes andere Album) einen klaren Vorteil: Kein Plattenspieler kann shuffeln. Foto: Tolga Akmen/afp

Auf Vinyl hat „30“ von Adele (wie jedes andere Album) einen klaren Vorteil: Kein Plattenspieler kann shuffeln. Foto: Tolga Akmen/afp

Ulm. Auf so eine Gelegenheit wartet jeder Musik-Nerd, die Sorte Mensch, die im Plattenladen darüber referiert, dass Abba, die Rolling Stones oder sonst wer Berühmtes komplett überschätzt ist. Da langweilt also der erwähnte Geschmackspolizist wieder einmal die Kollegin mit dem Aufzählen großer Popschaffender und ihrer Werke, als diese endlich sagt: „Du kannst mir ja mal eine Playlist machen.“ Der Nerd schreit so etwas wie „Challenge accepted!“. Ein Universum soll die Liste öffnen, Euphorie für unbekannte Genies entfachen, echte Kennerschaft beweisen, deswegen wird jedes Stück sorgfältig selektiert und einsortiert. Zum verschickten Link schreibt der Kurator: „Nicht im Shuffle-Modus hören, sonst wird es gaga.“

Er hat eine Verbündete in ganz anderen Sphären: Superstar Adele, die kürzlich der Welt ihr neues Album „30“ offenbart hat – und gleichzeitig Streaming-Marktführer Spotify dazu gebracht hat, den „Shuffle-Modus“ als Standard-Option für Musikalben zu entfernen. Die Einstellung also, die die Stücke durcheinanderquirlt und in zufälliger Reihenfolge wieder ausspuckt. „Wir machen unsere Alben nicht ohne Grund mit so viel Sorgfalt und Gedanken über die Songreihenfolge“, schrieb die britische Sängerin auf Twitter. Sie hatte die Abschaltung der voreingestellten (!) Zufallsfunktion zur Bedingung der Veröffentlichung von „30“ auf Spotify gemacht.

Schon länger stand der Shuffle-Modus in der Kritik, nicht nur durch Adele. Er war eine Beleidigung für alle Musikerinnen und Musiker. Spätestens, seitdem die Beach Boys 1966 „Pet Sounds“ und die Beatles 1967 „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlichten, ist das sorgfältig zusammengestellte Album als Ganzes ein Kunstwerk. Davor waren Langspielplatten oft nur eine Kompilation von Singles, aufgefüllt mit B-Material und Coverversionen. Dann aber war jedes Detail gemeint, Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson wurde über dem ganzen Brüten fast verrückt.

Dass man zur schnellen Emotionalisierung mal nur „God Only Knows“ hören möchte, dürfte jedoch selbst diesem Großdenker einleuchten. Aber warum die ganzen „Pet Sounds“, einmal planlos durchgerührt? Gott würfelt nicht, auch nicht, wenn er Wilson oder McCartney oder Adele Laurie Blue Adkins heißt. Doch es braucht nicht diese Schöpfungshöhe, um den Sinn des Shuffle-Buttons zu bezweifeln: Der Zufall ist ein mieser DJ. Von der Sphäre der Hochkultur ganz zu schweigen: Der Ressortleiter hatte kürzlich beim „Rheingold“-Hören versehentlich geshuffelt – als wäre die Geschichte vom Nibelungen Alberich und vom Gott Wotan nicht schon in der Wagner-Originalabfolge … speziell.

Auf Spotify funktioniert Musik anders als im Vinyl-, MC- oder CD-Zeitalter: Abgerechnet wird in Cent-Bruchteil-Beträgen pro Stream, wenn das Stück mindestens 30 Sekunden lang gehört wurde. Das hat zum einen die Strukturen kommerzieller Popsongs geändert (sie fallen jetzt gerne mit einem Refrain-Vorgeschmack ins Haus, damit die Hörerin oder der Hörer dranbleibt), zum anderen den Aufbau von Alben: Weil sie mehr Geld bringen, wenn mehr Songs darauf geparkt wurden, geht der Trend zu mehr Stücken mit kürzerer Laufzeit. Die Hip-Hop-Welt, immer vorne dabei, wenn es um Gewinnmaximierung geht, hat dieses Vorgehen längst perfektioniert.

Ein Großteil der Nutzerinnen und Nutzer freilich verwendet Spotify (und auch andere Streamingdienste) eher wie die Senderknöpfe am Radio: um sich die richtige Station (jetzt Playlist) für die Stimmung oder den Anlass zu suchen. Weil zum Abendessen mit den Schwiegereltern „Jazz in the Background“ besser passt als Pogo-Punk, existiert dafür die passende Liste. Ebenso wie „Fit mit Beat“ zum Pumpen im Gym oder „Romantische Klassik“ zur Beischlafanbahnung. Diese Listen sind keine persönlichen Mixtapes, sondern so homogen und funktional, dass der Shuffle-Modus gar nicht auffällt.

Die Macht gab den Ausschlag

Für planvoll konstruierte Alben, zu denen „30“ von Adele offenbar gehört, gilt dies nicht. „Unsere Kunst erzählt eine Geschichte und unsere Geschichten sollten so gehört werden, wie wir es beabsichtigt haben“, twitterte der Superstar. So eine Geschichte über das Vergehen der Liebe, Trennungsschmerz und Heilung funktioniert nur, wenn man sie der Reihe nach erzählt und nicht durcheinander wie nach dem siebten Glas Trostwein. „Danke Spotify fürs Zuhören“, bedankte sich Adele artig, sicherlich wissend, dass es ihre Marktmacht war, die den Streamingriesen zum Update gebracht hat. Die „Top 30 global“ von Spotify sind derzeit gespickt mit neuen Adele-Songs.

Die Playlist des Kulturredakteurs hingegen hat bislang zurückhaltende Reaktionen geerntet. Vielleicht, weil Adele darauf fehlt. Oder weil knapp sechs Stunden Laufzeit auch ohne Shuffle gaga sind.

Langspieler im Wandel

Das Format Album hat sich in mehreren Jahrzehnten Pop-Geschichte mehrfach gewandelt, oft eng verbunden mit der technischen Entwicklung. Mit der Einführung der CD galt es plötzlich als angemessen, die Verfügung stehenden 74 Minuten Spielzeit komplett zu füllen, und sei es mit einem „Hidden Track“ nach minutenlanger Stille (wie auf „In Utero“ von Nirvana). Immer jedoch ging es darum, ein interessantes Gesamtprodukt zu kreieren und so einen Kauf auszulösen. Mit dem CD-Player kam der bei Plattenspielern und Kassettendecks undenkbare Shuffle-Knopf in die Welt, erfunden vielleicht, um nach Top-Ten-Logik zusammengepropften „Best-of“-und Chart-Samplern so etwas wie Dynamik zu geben.

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Erstellt:
24.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 31sec
zuletzt aktualisiert: 24.11.2021, 06:00 Uhr

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