Corona

Der Streit um die Inzidenz als Maß der Dinge

Warum Gesundheitsminister Jens Spahn und RKI-Chef Lothar Wieler unterschiedlich auf die Zahlen sehen und was das für den Verlauf der Pandemie heißt.

30.07.2021

Von BERNHARD WALKER

Unterschiedliche Auffassungen über den Corona-Kurs: RKI-Chef Lothar Wieler (l.) und Gesundheitsminister Jens Spahn. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Unterschiedliche Auffassungen über den Corona-Kurs: RKI-Chef Lothar Wieler (l.) und Gesundheitsminister Jens Spahn. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Berlin. Niemand hat sie vermisst, die Corona-Gipfel von Bund und Ländern. Dafür waren die Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten zu enttäuschend – mal erreichten sie zu wenig (wie beim „Wellenbrecherlockdown“ im Herbst), mal endeten sie in einem politischen Debakel (wie bei der „erweiterten Osterruhe“, die Angela Merkel prompt kassieren musste). Am 10. August steht der nächste Corona-Gipfel an. Und wieder geht es dabei auch um die umstrittene 7-Tage-Inzidenz als Maßstab für die aktuelle Lage der Pandemie.

Schon vor Tagen hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf den Fortschritt beim Impfen hingewiesen. Zwar wäre es ihm sehr recht, wenn sich noch mehr Bürger impfen ließen. Da inzwischen aber 42,3 Millionen Bürger beide Pikse bekommen haben, verliert die Inzidenz aus Spahns Sicht an Aussagekraft.

„Da die gefährdeten Risikogruppen geimpft sind, bedeutet eine hohe Inzidenz nicht automatisch eine ebenso hohe Belastung bei den Intensivbetten“, sagt Spahn. Um genau zu erfassen, wie die Lage in den Kliniken ist, müssen die seit Kurzem nicht nur die Zahl der Covid-19-Kranken melden – sondern auch angeben, wie alt die Patienten sind, wie sie behandelt werden und ob sie gegen Covid-19 geimpft sind.

Eine Frage der Gewichtung

Dass Spahn genauer auf die Kliniken schaut, heißt nicht, dass ihm die Inzidenz plötzlich egal wäre. Dieser Hinweis ist wichtig, um den Konflikt zwischen Spahn und Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, einordnen zu können, von dem nun viel die Rede ist. Weder will der Minister die Inzidenz streichen noch will Wieler allein auf die Inzidenz setzen. Es geht eher um das Verhältnis von Inzidenz und der Lage in den Krankenhäusern.

Die ist aktuell überhaupt nicht besorgniserregend. In weniger als zwei Prozent aller Intensivbetten liegt ein Covid-19-Kranker. Dabei war die Inzidenz zuletzt gestiegen. Vom 21. bis 29. Juli erhöhte sie sich bundesweit von 11,4 auf 16. Wieler sieht die Inzidenz weiter als „Leitindikator für Infektionsdynamik“. So heißt es in der zehnseitigen Präsentation, die er den Ländern vorstellte. Mit anderen Worten: Was niedrig ist, kann steigen und dann auch in den Krankenhäusern für schwierige Situationen sorgen. Deshalb erwähnt Wieler in der Präsentation Portugal, die Niederlande und Großbritannien und verweist darauf, dass dort die Inzidenz gestiegen und es – ungeachtet der Impfungen – zu mehr Klinikfällen gekommen sei.

Allerdings erwähnt er nicht, dass die Inzidenzen in Großbritannien und Holland zuletzt deutlich gefallen sind. Auch bleibt offen, ab wann – trotz der Impfungen – die Inzidenz aus Wielers Sicht zu einer Überlastung der Kliniken führt. „200 ist das neue 50“, meint Spahn. Sieht der RKI-Chef das auch so? Dazu findet sich in der Präsentation nichts.