„Ohne Widerrede der Größte“

Der Stephanuschor führt an Palmsonntag Gottfried August Homilius‘ Johannespassion auf

Auf der Suche nach einem würdigen Werk zur Eröffnung der Karwoche stieß Stephanus-Kantorin Tabea Flath auf die erst 2007 wiederentdeckte Johannespassion des Dresdner Kreuzkantors Gottfried August Homilius. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte er zu den beliebtesten deutschen Komponisten – heute steht sein Nachruhm in Bachs Schatten. Das Konzert am Sonntag ist die Tübinger Erstaufführung.

17.03.2016

Von Achim Stricker

Der Komponist Gottfried August Homilius, Lithographie von Friedrich Krätzschmer.

Der Komponist Gottfried August Homilius, Lithographie von Friedrich Krätzschmer.

Tübingen. Homilius sei „ohne Widerrede unser größter Kirchencomponist“ gewesen, heißt es 1790 im „Leipziger Tonkünstlerlexikon“ – und das wohlgemerkt in der Stadt des Thomaskantors, 40 Jahre nach Bachs Tod. Tatsächlich wurden Homilius‘ Werke bis ins 19. Jahrhundert hinein deutschlandweit viel aufgeführt; mehr als 1400 zeitgenössische Abschriften seiner Werke finden sich auch in benachbarten Ländern. Erst die Wiederentdeckung Bachs ab den 1820er Jahren ließ Homilius in den Hintergrund treten, mehr und mehr in Vergessenheit geraten.

Anlässlich seines 300. Geburtstags 2014 rückte er wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein, gefördert durch diverse Editionen wiedergefundener Werke. Nicht nur für die Dresdner Frauenkirche schrieb Homilius rund 180 Kantaten und über 60 Motetten, je ein Oratorium zu Weihnachten und zu Ostern sowie neun Passionen – vier zu den Evangelien und fünf Passionsoratorien auf freie Textdichtungen. Zeitgenossen rühmten Homilius‘ ungeheuren Ideenreichtum, die Variabilität seiner Formen, ohne in Schematismen zu verfallen.

„Homilius ist mir natürlich schon seit meinem Kirchenmusikstudium in Dresden bekannt, vor allem als Kreuzkantor“, erzählt Tabea Flath. „Aber als er dann ab den späten 1990er Jahren erst so langsam wirklich wiederentdeckt wurde, war ich bereits nicht mehr in Dresden. Trotzdem gibt es in mir ein gewisses Verbundenheitsgefühl, weil er ein ‚Landsmann‘ von mir ist.“ Flath stammt aus dem schönen Kurort und „Spielzeugdorf“ Seiffen im Erzgebirge.

Homilius wiederum wurde 1714 im sächsischen Dorf Rosenthal als achtes von neun Kindern in eine Pfarrersfamilie hineingeboren. Nach dem Tod des Vaters und mehreren Schicksalsschlägen sah sich die Mutter gezwungen, die Kinder bei verschiedenen Verwandten unterzubringen. Homilius kam mit neun Jahren zu seinem Onkel Christian August Freyberg, Rektor der Dresdner Annen-Schule. Dort entdeckte man sein musikalisches Talent, vor allem auf Orgel und Cembalo. Erste Kompositionen entstanden während seines Jura-Studiums in Leipzig für die dortigen Kirchen und studentischen Collegia musica. Auch soll Homilius öfter als Continuo-Spieler unter Bachs Leitung in der Leipziger Nicolaikirche musiziert haben. Eventuell nahm er sogar bei Bach Unterricht.

1742 wurde Homilius weithin geschätzter Organist der Dresdner Frauenkirche. Von 1755 bis zu seinem Tod 1785 war er 30 Jahre lang Kantor der Kreuzschule sowie Musikdirektor der drei Dresdner Hauptkirchen. Seine Passionen entstanden für die Frühgottesdienste der Karwoche und schließen im ausgehenden 18. Jahrhundert die barocke Gattung ab. Die Partitur der knapp zweistündigen Johannespassion, entstanden wohl in den 1770er Jahren, wurde erst 2007 im Archiv der Berliner Sing-Akademie wiederentdeckt – in einer Bearbeitung von Carl Philipp Emanuel Bach.

„Homilius‘ Vertonung der Johannespassion strahlt Helligkeit und Leichtigkeit aus“, beschreibt Flath. „Man sollte seine Musik nicht zu sehr mit der von Johann Sebastian Bach vergleichen. Damit wird man Homilius nicht gerecht, er ist vielmehr ein hervorragender Vertreter des Empfindsamen Stils.“ Homilius beherrscht zwar noch die barocke Kontrapunktik, aber seine Passion atmet schon ganz den Geist der Empfindsamkeit, der Gefühlskultur des Rokoko.

Die liedhaft melodiösen Arien wollen den Hörer unmittelbar rühren, teils schon mit Anklängen an die Frühklassik. Die Rezitative erscheinen als einfühlende, anteilnehmende Erzählung. Der Chor tritt oft in schlichten, aber ausdrucksvollen Choralsätzen auf, „wunderbar meditierend“, charakterisiert Flath. Selbst wo der Chor in den Turbae-Sätzen (die erregte Volksmenge) ins dramatische Geschehen involviert ist – „Kreuzige ihn“ oder „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz soll er sterben“ – verbreiten die Chorsätze eine tief empfundene, emotional vielfältige Atmosphäre.

Gerade wegen Homilius‘ eigenständigen Formlösungen ist ein Vergleich mit Bachs Johannespassion dennoch durchaus spannend. Oft entscheiden sich beide Komponisten gattungs- und genrebedingt für ähnliche Satztypen oder Affektdarstellungen, füllen sie aber jeweils sehr individuell aus. Und gerade da, wo scheinbar Bekanntes begegnet, hält Homilius oft unerwartete Überraschungen bereit: Hat man den Choral-Satz „Gloria sei dir gesungen“ von Bach herkommend vermeintlich im Ohr, bricht hier plötzlich das volle Orchester mit überschwänglichen Hörnern los. Überhaupt eine recht Horn-freudige Partitur.

Das Werk zeigt deutlich, warum Homilius zumal als Komponist von Chorwerken geschätzt wurde. Neben Passionstext und Choralstrophen ist der Schlusschor der einzige Chorsatz auf einen freien Text. Mit einem für eine Passion vielleicht überraschenden Wandel vom trauervollen a-moll in jubelndes A-Dur: ein Vorschein österlicher Auferstehungsfreude.

Konzert in der Stiftskirche

Stephanuschor und Concerto Tübingen musizieren unter Tabea Flaths Leitung Homilius‘ Johannespassion an Palmsonntag, 20. März, um 19.15 Uhr in der Stiftskirche. Vokalsolisten: Maria-Barbara Stein (Sopran), Adelheid Krohn-Grimberghe (Alt), Henning Jensen (Tenor) und Johannes Fritsche (Bass).