Klang-Kunst an der Schaustelle am Europaplatz

Laut, verrückt, banal: Der Sound Tübingens

Wie hört sich Tübingen an?Die Dresdner Künstlerin Maria Heidler hat den Klang der Stadt in einer Hörinstallation am Europaplatz festgehalten.

31.07.2018

Von Sigrid Wenzel

Maria Heidler vor ihrer Akustikinstallation am Infopunkt Europaplatz. Bild: Faden

Maria Heidler vor ihrer Akustikinstallation am Infopunkt Europaplatz. Bild: Faden

Einen Monat lang hat sich Maria Heidler Tag für Tag auf dem Europaplatz aufgehalten, ist an den Haltestellen vorbeigeschlendert, saß auf der Bahnhofstreppe; Stift und Schreibblock stets griffbereit. Damit notierte die Künstlerin Sätze, Satzfetzen, Wörter, die sich in ihre Ohren drängten, sei es, weil sie besonders laut waren oder weil Heidler ein Wort aufschnappte, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Diese auditiven Fundstücke hat sie zu einer Hörinstallation zusammengefügt, die die „akustische DNA“ Tübingens wiederspiegelt.

„Es ist spannend, wie viele Stimmen wir im öffentlichen Raum hören, und mit wievielen Inhalten wir konfrontiert sind, wenn wir durch die Straßen gehen. Es tun sich wirre, witzige Verknüpfungen auf, das finde ich faszinierend“, erzählt Heidler, die in Dresden Bildende Kunst studiert.

Ein Kopf voller Wörter, das hat mich schon geärgert, dass die mit dem Auto gefahren sind, die Assis.

Die Sätze und Wörter hat Heidler zunächst zu einem Buch zusammengefasst. „Allerorts“ heißt die Aufzeichnung, in der sie ihre Notizen genau so zu Papier gebracht hat, wie sie sie in Tübingen gehört hat: eine schier unendliche Aneinanderreihung der Sprachfetzen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind.

Audio

Ein Ausschnitt aus der Installation „Allerorts“ aus Tübingen

„Das ist manchmal so überbordend, und wir können uns dieser Geräuschkulisse nicht entziehen, wenn wir uns im öffentlichen Raum bewegen“, sagt sie. Ein paar der Sprachfragmente hat sie in der Altstadt aufgeschnappt, einige wenige auf der Zugfahrt von Stuttgart nach Tübingen.

Zu der Idee, ein „Hörspiel der Straße“ zu entwerfen, wurde die Künstlerin erstmals auf dem Wochenmarkt am Berliner Maybachufer inspiriert. „Marktschreier, Besucher, Laute, Töne – ich fand die Geräuschkulisse großartig und wollte die Stimmung festhalten.“

Ihre erste Hörinstallation entstand jedoch erst in Dresden im Rahmen ihres Studiums. In dieser Arbeit hat Heidler mit Tönen, Wörtern, Klängen der Straßen und Plätze Dresdens eine Hörcollage geschaffen. Und wie jede Stadt ihre eigenen Sehenswürdigkeiten und Gerüche hat, so hat sie auch ihren eigenen Sound, ihren eigenen Klangcharakter, ist Heidler überzeugt. „Die akustische DNA Dresdens ist auf jeden Fall derber als die von Tübingen, aber dadurch auch witziger“, meint sie.

In Tübingen sind ihr hingegen die vielen verschiedenen Sprachen aufgefallen, die sie auf der Straße gehört hat: „Das fand ich wunderschön und sehr beeindruckend!“ Was bei ihrer Arbeit allerdings nicht zum Tragen kommt, da sie ausschließlich Sprachen notiert hat, die sie versteht.

Wir kommen da hin, in circa genau ganz hinten, and every time when I say, jeder darf selbst aussuchen, Johannes.

Gesprochen haben die Hörhappen mit einer Länge von insgesamt 1,5 Stunden die Schauspielerin Franziska Beyer und die Schauspieler Raphael Westermeier und Patrick Schnicke. Sie haben mit den Sätzen, den Bruchstücken und den Wörtern gespielt, Charaktere entwickelt und Handlungsstränge entworfen, wo es de facto keine Handlungen gibt. „Es ist unglaublich spannend, was die drei aus den Texten rausgeholt haben“, so die Künstlerin.

Mit der Interpretation des Wörterflusses durch die Schauspieler tritt Heidler, die Hörende, bewusst in den Hintergrund. Die Sätze werden verfremdet, sie lassen sich dem Sprechenden nicht mehr zuordnen. „Wir hatten sieben Seiten eng bedruckten Fließtext in Blockformat, keine Punkte, keine Absätze, die einzelnen Sprecher und Sprecherinnen waren nur durch Kommata getrennt. Da die Sätze zwischen verschiedenen Gesprächen hin- und hersprangen, galt es herauszufinden, wo ein Gespräch weiterläuft, es zu strukturieren und durch Stimmfärbung kenntlich zu machen – und sich gleichzeitig davon zu befreien, um sich spontan vom Text tragen zu lassen und ihm nicht mit Logik zu begegnen“, schildert Raphael Westermeier die Herausforderung, vor die ihn das Sprechen gestellt hatte.

Der hat so voll oft chicken wings gegessen, voll oft, immer dienstags, da war gerade Regen in New York und da gab es noch keine Handys.

Keiner der Schauspieler wusste, ob er die Wörter einer alten Frau, eines jungen Mannes, eines Kindes oder Jugendlichen sprach. „Die Kakophonie unterschiedlichster O-Töne wirkte beim ersten Lesen verwirrend“, erzählt Patrick Schnicke. „Wir haben stets längere Passagen aufgenommen, dadurch kam ich beim Sprechen in einen Text-Rausch, der dabei half, die Vielfältigkeit der Stimmen im besten Fall lebendig und spontan wiederzugeben. In diesem Sprachrausch entstanden dann wie von selbst witzige, absurde, lebendige, tiefe und interessante Konstellationen.“

Ich hab alles dort gelassen, und hier ist alles Bio, dann hab ich aggressiv ein E-Bike überholt und dann macht das floppfloppflopp und mein Reifen war durch.

Heidler hat in den Wochen, in denen sie mit Stift und Notizbuch über den Europaplatz und durch Tübingen gezogen ist, beobachtet, „dass Menschen niemals miteinander sein können, ohne zu reden. Oft geschieht das sehr laut, und ich habe mich gefragt, ob wirklich alle mitbekommen müssen, was ich sage. Ich möchte mit meiner Installation auch ein Bewusstsein dafür schaffen, was ich im öffentlichen Raum mitteile und was nicht.“

Schauspielerin Franziska Beyer entwickelte während der Arbeit an dem Hörprojekt eine feinere Wahrnehmung für all die Stimmen, die permanent durch den öffentlichen Raum wabern. Diese ließ nach Abschluss des Projekts wieder nach. „Ich glaube, im Alltag würden wir alle unter der Last dieser ganzen sensitiven Eindrücke zusammenbrechen. Da hat jeder Mensch seine Filter eingebaut – sonst würde man verrückt, wenn man sich dem, was um einen herum passiert, immer mit voller Aufmerksamkeit widmet.“

Gestrichen hat Heidler aus ihren Aufzeichnungen nur eine einzige Notiz: „Ein sehr rassistischer Satz ist rausgeflogen, den wollte ich nicht drei Jahre über den Europaplatz laufen lassen.“

Also wenn ihr irgendwas nicht versteht, ich versteh das auch nicht, und das 15 mal.

Die Schaustelle auf dem Tübinger Europaplatz

Die Installation

Die Hörinstallation von Maria Heidler ist Teil der Schaustelle, die am 30. Juni auf dem Europaplatz eröffnet wurde und mit der die Stadt in den kommenden Jahren über dessen Umbau informiert. Nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten ist die Installation nun seit dem 29. Juli in Betrieb. Nähert man sich dem rosa-weißen Bauzaun, in dem sie untergebracht ist und der wie eine Säule in die Luft ragt, ertönen für fünf bis 60 Sekunden Wörter und Sätze – der Sound Tübingens.