Tübingen · Bücherfest

Der Satz ist das Wichtigste

Nur eine Hölderlinausgabe blieb stehen, sonst war Tübingen am Wochenende von Kopf bis Fuß auf Zuhören, Lesen, Kaufen und Signierenlassen eingestellt.

08.07.2019

Von Peter Ertle

Impressionen vom Tübinger Bücherfest

Das Tübinger Bücherfest 2019: TAGBLATT-Fotograf Ulrich Metz hat die schönsten Bilder mit seiner Kamera eingefangen.
Bild: Ulrich Metz
Bild: Ulrich Metz

© ST

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Freitag Abend, Mannheim, SAP-Arena: Neil Young. Gut, das gehört nicht zum Bücherfest. Also nochmal angefangen:

Impressionen vom Tübinger Bücherfest

Das Tübinger Bücherfest 2019: TAGBLATT-Fotograf Ulrich Metz hat die schönsten Bilder mit seiner Kamera eingefangen.
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Samstag 11.50 Uhr, Bücherantiquariat: Ein Ehepaar aus Nagold überlegt sich, eine Frankfurter Hölderlin-Ausgabe zu kaufen, ist aber noch zögerlich. 12.30 Uhr, Bücherantiquariat: Gibt’s das? Das Ehepaar steht immer noch da, den Hölderlin in der Hand. Nein, sie seien zwischendurch weiter gebummelt, jetzt wieder zurückgekehrt, korrigieren sie den Eindruck.

12.40 Uhr: Schon eine lange Schlange vor dem Wilhelmstift. Alle wollen rein. Zu ihm, der in diesem Moment raus kommt. Es ist heiß und drückend, Robert Seethaler hätte gern ein Handtuch, falls er schwitzt. Sie wollen es besorgen für ihn, er wehrt ab: „Das kann ich schon selber machen.“ Ein Bücherfestautor zieht los, um sich ein Handtuch zu kaufen.

13.10 Uhr: Robert Seethaler geht unter Applaus zum Lesetisch, in der linken Gesäßhosentasche ein Bündel zusammengefalteter, weit heraushängender DinA4-Seiten, in der Hand ein sehr kleines, graues Handtuch. Er wird es kaum brauchen. Der Himmel hat inzwischen gnädig Wolken geschickt. Drei Köpfe größer ist er als Heinrich Riethmüller neben ihm, der erzählt, dass der Autor normalerweise schwer zu kriegen ist, heute mit dem Flugzeug angekommen sei und nachher mit dem Flugzeug wieder nachhause fliege, keine Übernachtung.

Ein Foto für Mama

Zu diesem Tempo will Seethalers Naturell so gar nicht passen. Es sei so schön hier, ob denn noch Wohnungen frei wären. Und: „Sind Sie denn alle aus Tübingen?“ Vermutlich hat er nur den Stadtkern gesehen und traut dem Ganzen nicht so viele Bewohner zu. Er möchte, dass jemand ein Foto macht vom Publikum. Riethmüller übernimmt. „Für meine Mutter. Die sitzt in Wien und soll das auch sehen.“ Dann liest er – und wie das war, steht auf der Seite „Tübinger Bücherfest“ weiter hinten. Nach der Lesung hinterlässt eine Zuhörerin einen Strauss pinkfarbener Rosen am Büchertisch für Seethaler. So einer ist das also: Ein Schriftsteller, der mit seinen sanften, traurigen, manchmal etwas bösen, aber auf eigenartige Weise immer liebevollen Geschichten die Herzen der Frauen erobert. Wie macht er das nur?

„Indem er nicht viel sagt“, meint im Hof des Bürgerheims lapidar eine Zuhörerin, die die gleiche Route gewählt und sich von Seethaler offenbar mehr Kommentierung und Plauderei erhofft hat. Es ist 15 Uhr und es müssen immer neue Stühle herangeschafft werden, manche sitzen auch im Gras oder auf Steinen.

Der Sänger im Karohemd

Dörte Hansens Lesung war schon vorher ausverkauft. „Tübingen ist das Woodstock der Literatur“, zitiert Moderatorin Ingrid Abeln von Osiander Rafik Schami. Möglicherweise hat es auch Raoul Schrott als erster gesagt. Es ist egal. Das Tübinger Bücherfest, so kursiert es unter den Autoren, ist das schönste in Deutschland. Aber was ist denn das? In Dörte Hansens Lesung geht es jetzt um einen Mann, der die wimmernden Lieder eines alten Sängers im Karohemd liebt, sie passen zu dieser kargen friesischen Landschaft oder zu jener Sehnsucht, die man in diesem Landstrich eher im Autocassettenfach verbirgt. Neil Young gehört doch zum Bücherfest!

Und Dörte Hansen, das lässt sich nach ihrer lange und donnernd applaudierten Lesung im Hof des Bürgerheims sagen, war einer der Höhepunkte dieses Samstags. Was für ein großartiger Roman über die Menschen in Brinkebüll nahe Husum (siehe den Artikel „Hoch im Norden“ auf der Bücherfestseite weiter hinten).

Übrigens: Wie schon Seethaler fragte auch Dörte Hansen zu Beginn, ob es laut genug sei, ob man sie verstehe. Und wieder rief ein Teil „Nein!“. Es sagt weniger über die technische Anlage als über die Altersstruktur des Publikums. Auf einen Zuhörer unter 45 kommen 10 über 45. (Und auf einen Mann vier Frauen). Vielleicht müsste das nächste Bücherfest mehr Formate für junge Leser wagen.

An der Poets’ Corner in der Gasse vor der Literaturgaststätte zum Pflug schenkt einem Wirt Urs Kummer das bestellte Hefeweizen ein, alkoholfrei, im Dienst, er schüttelt die fast leere Flasche nochmal, kippt auch den Rest rein, sagt: „Der Satz ist das Wichtigste.“

Hier saß, erfährt man, gerade noch Robert Seethaler und hörte den spontan mitgebrachten Texten zu. Sehr sympathisch. Und so schnell muss der offenbar doch nicht zum Flugzeug. Jetzt liest gerade die Geschichtsstudentin Rike Richstein aus „Herr Paul oder die Unwahrscheinlichkeit des Glücks“. Im Herbst wird ihre Geschichte auch publiziert, als Book on demand. Mit richtiger ISBN-Nummer. Als sie es leise erzählt, liest bereits ein pensionierter Lehrer aus Freudenstadt Reimgedichte mit Knalleffekt, die Organisator Tibor Schneider diverse Lächeln ins Gesicht zaubern, von denen schwer zu sagen ist, wie sie zu deuten sind.

Göttlicher Schweinehirt

Freudenstadt also, vorhin das Paar aus Nagold: Seethalers Frage „Sind Sie denn alle aus Tübingen?“ kann also beantwortet werden: Nein, die kommen von überall her! An der Poets‘ Corner beendet jetzt ein Student sein Gedicht mit der Verszeile „Du göttlicher Schweinehirt, steig vom Thron!“ Es bezieht sich, sagte er vorab, auf Hölderlins Gedicht „Der Einzige“. Hölderlin! Schnell zum Bücherstand: Da steht die Frankfurter Ausgabe. Das Ehepaar aus Nagold hat sie nicht gekauft.

Abends bei „Love Bites“ vom Lokalmatador Konkursbuchverlag liest Anne Bax aus dem Ruhrpott ihre ungeheuer komischen Geschichten, Phoebe Müller gibt drastische Einblicke in nachlassendes Begehren, Verlegerin Claudia Gehrke liest Yoko Tawada, die ihre eigene Veranstaltung hatte und jetzt in der ersten Reihe sitzt und einfach zuhört, Eleonore Hochmuth ist von Kopf bis Fuß auf Bücher eingestellt und Foxic Poison entledigt sich sehr sinnlich nicht nur ihrer Strümpfe. Der Löwen ist gut gefüllt. Überall ist es gut gefüllt, auch die poilitischen Lesungen, Mesale Tolu oder Abbas Khider, wie Heinrich Riethmüller von der Osianderschen Buchandlung berichtet, die Organisatoren sind glücklich. Auch am schönsten Leseort Tübingens, im Stiftsgarten, belegen am Sonntag um 11 Uhr 300 Zuhörer alle Plätze bei Katharina Adlers Lesung über das Leben ihrer Großmutter Ida, die Freuds bekannter Fall „Dora“ war.

Bücher über Großmütter sind zwar keine Seltenheit, wie es in der Anmoderation heißt, sondern von Katja Petrowskaja bis Sandra Hoffmann regelrecht Trend. Aber die Korrektur Freudscher Hysteriediagnose durch die heutige Lesart sozialer Zusammenhänge und aus dem Blickwinkel einer zeitgenössischen Frau und Enkelin – ist eine schöne Besonderheit des Romans „Ida“. Und schreiben kann sie halt auch, die Frau Adler.

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Erstellt:
08.07.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 14sec
zuletzt aktualisiert: 08.07.2019, 01:00 Uhr

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