Weiler

TAGBLATT-Gutenachtgeschichte: Depressiver Bär trifft Leseratte

Amüsante und nachdenkliche Geschichten standen beim Vorleseabend in Weiler im Mittelpunkt.

11.08.2022

Von Andreas Straub

Weilers früherer Ortsvorsteher Jochen Mager las im TAGBLATT-Sessel vor dem Bürgerhaus eine Kurzgeschichte von John Irving vor. Bild: Andreas Straub

Weilers früherer Ortsvorsteher Jochen Mager las im TAGBLATT-Sessel vor dem Bürgerhaus eine Kurzgeschichte von John Irving vor. Bild: Andreas Straub

Bei sommerlichen Temperaturen machte die Gutenachtgeschichte des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTs am Dienstagabend in Weiler Station. Die 70 Zuhörerinnen und Zuhörer bevorzugten die im Schatten des Bürgerhauses stehenden Stühle, hin und wieder sorgten Windbrisen für Abkühlung. Der Förderverein des Bürgerhauses bewirtete mit belegten Brötchen und kühlen Getränken, Matthias Klaiber vom Vorstand begrüßte und kündigte nach schwungvollen Stücken des Musikvereins Weiler als ersten Vorleser den früheren Ortsvorsteher Jochen Mager an.

Dieser hatte die Bärengeschichte „Die Pension Grillparzer“ von John Irving ausgewählt. „Bereits zu meiner Zeit als Zivildienstleistender im Marienhospital in Stuttgart habe ich die Bücher von Irving entdeckt und bin ein großer Fan geworden“, sagte Mager. Als erstes Werk habe er „Garp und wie er die Welt sah“ von diesem Autor gelesen. Die „Pension Grillparzer“ hatte er ausgewählt, weil es äußerst kurzweilig zugeht. Eine Familie reist mit zwei Söhnen und Großmutter in die Unterkunft, um sie aus touristischer Sicht zu beurteilen. Das ist der Beruf des Vaters beim österreichischen Fremdenverkehrsamt, aber die gesamte Familie wird diesmal mit einbezogen. Wann hat der Friseur offen, wie ist das Essen und funktionieren die Toiletten?

Die gut zum Vorlesen geeignete Kurzgeschichte wimmelt von merkwürdigen Umständen und Begebenheiten. Unter anderem spielen verzweifelte Akrobaten, ein depressiver Bär und ein Traumerzähler wichtige Rollen. Die Zuhörer schmunzelten des Öfteren, etwa bei den zahlreichen Mängeln, die sich der Vater notierte und beim auf den Händen gehenden und Einrad fahrenden Bären.

Nach einer Pause nahm Sandra Homberger im Vorlesesessel Platz. „Ist richtig bequem“, stellte sie zu Beginn fest. Die freiberufliche Musiktherapeutin und Supervisorin lebt seit fünf Jahren in Weiler und las mit guter Betonung und unterhaltsam. Ausgewählt hatte sie „Das Labyrinth der Wörter“ von Marie-Sabine Roger. Zuerst trug sie die Inhaltsangabe des französischen Romans vor (2010 mit Gerard Depardieu verfilmt), dann den Anfang und nach ein, zwei Sprüngen eine Szene vom Ende.

„Ich habe die Geschichte zum ersten Mal gleich nach dem Erscheinen im Urlaub gelesen und sie ist mir in Erinnerung geblieben“, sagte Homberger. „Ich lese total viel und gerne.“ Als sie gefragt wurde, ob sie vorlesen wolle, sei ihr sofort dieses Buch eingefallen. Im Kern geht es um einen einfachen, grobschlächtigen Mann, der sich mit einer älteren, gebildeten Dame anfreundet.

Germain, 45, ist nahezu ein Analphabet und verliefe sich regelmäßig und gründlich im „Labyrinth der Wörter“, wenn ihm nicht sein besonders gutes auditives Gedächtnis zugute käme. Margueritte („mit zwei t“) ist 95 Jahre alt und eine gebildete „Leseratte“. Sie treffen sich im Park, sie liest ihm vor und sein Wesen ändert sich. Germain lernt mit Hilfe seiner Freundin selbst das Vorlesen und hilft später der in ein schäbiges Altersheim verschleppten Margueritte. „Die Geschichte ist so anrührend und sensibel geschrieben“, sagte Homberger. „Sie berührt das Herz und tut jedem gut.“ Sie spreche kleine und große Kinder an und das klappte auch in Weiler.

Die Einnahmen aus der Spendensammlung per Hut gingen an das Sommerferienprogramm im Ort, das ehrenamtlich von drei Müttern organisiert wird. Wie Klaiber berichtete, beteiligen sich örtliche Vereine daran ebenso wie zwei Bauernhöfe, die Weilermer Feuerwehr und der Rottenburger Polizeiposten.

Die Bücher

„Die Pension Grillparzer – eine Bärengeschichte“, ist eine Kurzgeschichte von John Irving und als Taschenbuch 2008 im Diogenesverlag erschienen.

„Das Labyrinth der Wörter“ von Marie-Sabine Roger ist 2017 im Verlag Hoffmann und Campe erschienen.