Den Geschmack getroffen

Nicht die Tüftler, nicht die Forscher, nicht die Schrauber: Es gibt auch noch andere Start-ups, die in Tübingen erfolgreich sind. Beispielsweise das Esszimmer. In der Mühlstraße hat sich Nurhamza Yigitbay seinen Traum verwirklicht und ist 2017 mit einem Konzept angetreten, das es so noch nicht gegeben hat.

07.10.2019

Von TEXT: Moritz Hagemann|FOTOS: Ulrich Metz

Viele Studierende verdienen sich hinter der Esszimmer-Theke ein kleines Zubrot.

Viele Studierende verdienen sich hinter der Esszimmer-Theke ein kleines Zubrot.

Er hatte das Gefühl, dass etwas fehlt, erzählt Nurhamza Yigitbay. Da die Dönerläden (ohne Zweifel etwas Gutes, aber jeden Tag wolle er das auch nicht) oder andere Fast-Food-Angebote, hier die gehobenere Gastronomie. Und dazwischen? „Da gab es eigentlich nichts.“

Dann sah der heute 36-Jährige abgeklebte Fenster in der Tübinger Mühlstraße. Gegenüber des Schwarzen Schafs, wo davor ein Shop mit veganen Produkten beheimatet war. In der Apotheke am Lustnauer Tor hakte Yigitbay nach und kam so an die Handynummer des Eigentümers. Ein Jahr habe es gedauert, bis das Esszimmer dann im April 2017 eröffnet hat. „Es soll ein Erlebnis sein, bei uns zu essen“, sagt Yigitbay, der sich drei Kernmerkmale auferlegt hatte: frisch, preiswert, gesund.

Große Schüsseln stehen hinter der Ladentheke, gefüllt mit Verschiedenem: Kartoffelwürfel, Reis, Veggie Balls, Hähnchenstreifen, verschiedenes Gemüse und Soßen – nur eine Auswahl. Das Rezept seiner Soßen kennen nur die Köchin und er. „Und das wird auch so bleiben“, sagt Yigitbay und lächelt. Die „Bowls“ kann jeder Gast individuell zusammenstellen. Sie kosten zwischen 5,50 und 7,50 Euro. Außerdem gibt es die ungarische Spezialität „Langos“ in verschiedenen Variationen, „weil wir noch ein Nebenprodukt gesucht haben“, sagt Yigitbay. Offenbar mit Erfolg, schließlich sei an manchen Tagen „kiloweise Teig“ zu produzieren.

Frische Produkte seien ein ganz wichtiger Faktor, sagt der Inhaber.

Frische Produkte seien ein ganz wichtiger Faktor, sagt der Inhaber.

Wer heute um die Mittagszeit durch die Mühlstraße spaziert, sieht nicht selten, wie sich die Schlange der Hungrigen aus dem Esszimmer bis auf die Straße staut. Das ist eine Konstante seit zweieinhalb Jahren. Doch es hat sich auch so manches verändert. Zunächst hatte Yigitbay den Plan, vom Nachtleben in der Mühlstraße zu profitieren. Was nahe liegt, schließlich ist es der Nabelpunkt Tübinger Partynächte. Doch die Idee war nach kurzer Probezeit überholt. Zu viele kamen zu betrunken – Mühe und Ärger überwogen den Ertrag. „Deshalb haben wir uns auf das Taggeschäft konzentriert.“

Auch die Gäste veränderten sich: Kamen zur Anfangszeit vor allem Studierende und Angestellte aus der Nähe, seien inzwischen immer mehr Familien, Gruppen, aber auch Schülerinnen und Schüler zu Gast. Etwa 20 Prozent, schätzt Yigitbay, seien Stammkunden, die dreimal in der Woche vorbeischauen. Inzwischen hat er 30 Angestellte, wovon zwei in Vollzeit arbeiten und sich der Rest die Schichten aufteilt. Der Chef selbst hilft auch mit. Selbst sonntags, am Ruhetag, erledigt er Arbeiten für das Geschäft.

Der Lauf der Zeit ist auch an den Räumen erkennbar. Die hat Yigitbay nach und nach eingerichtet, „aus dem Kopf heraus“. Eine Treppe führt von der Ausgabe nach oben, dort habe er die Möbel den Gegebenheiten angepasst. Mit auffälligen Details: etwa einer großen Uhr an der Wand, die seine Familie aus dem Florenz-Urlaub mitgebracht hat. Oder historischen Schwarz-Weiß-Fotos, die das Haus und die Umgebung zeigen. „Wir saßen zwei Stunden im Stadtarchiv und haben die Bilder zusammengesucht“, erzählt der Inhaber. Hinter der Balustrade im Obergeschoss ließ Yigitbay zuletzt eine Scheibe einbauen und die Wand erhöhen, damit der Geruch des Kochens nicht so stört. Auch die Abzugsanlage sei verstärkt worden. Alles Dinge, die dem Quereinsteiger mit der Zeit bewusst worden sind. Geblieben ist eines: Bedient werden die Gäste nicht. „Das würde nicht zum Konzept passen“, sagt Yigitbay.

Damals, 2017, gab es auch noch kein Porzellangeschirr im Esszimmer. Sondern nur biologisch-abbaubares Besteck samt Schüsseln. „Aber wir wollen Müll vermeiden“, sagt Yigitbay. Deshalb gibt es inzwischen Geschirr zusätzlich. Generell sei der Umweltschutz ein Thema, das ihm und seinem Team wichtig sei. Wer etwa mit der eigenen Dose ins Esszimmer bekommt, erhält einen Rabatt. Am 20. September, dem Tag des großen Klimastreiks, durften einige Angestellte auch für das Klima mitdemonstrieren.

Nurhamza Yigitbay stammt aus Tuttlingen und kam vor rund 15 Jahren nach Tübingen. „Hamza“, wie ihn fast alle rufen, machte sich in der Region als Fußballspieler auch einen Namen. Er hatte Jura studiert, ehe er in die Gastronomie eingestiegen ist. „Der Gedanke war nicht, Gastronom, sondern Unternehmer zu werden“, sagt er. Denn er sieht in seinem Laden sehr viel Potenzial – auch für weitere Standorte. Interessierte aus Reutlingen, aber auch aus Nordrhein-Westfalen hätten sich bereits nach dem Konzept erkundigt. Yigitbay verfolgt das mit Interesse, schließlich läuft das Esszimmer zwar, aber zurücklehnen könne und dürfe er sich auch nicht. Früher, so erzählt er, habe er Gastronomen belächelt, die in Interviews davon gesprochen hatten, sie seien glücklich, wenn die Gäste glücklich sind: „Das war für mich immer eine Floskel.“ Heute weiß er es besser. Und berichtet von Gästen, die auf einer Serviette oder einem Blatt Papier mal einen Gruß auf dem Tisch hinterlassen, dass sie mit dem Essen sehr zufrieden gewesen seien. Yigitbay: „Da freut man sich dann wirklich.“