Birbaumer-Untersuchung

Deutsche Forschungsgemeinschaft: Den Daten fehlte Tiefe

Wissenschaftliches Fehlverhalten: Der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer soll Aufsätze zurückziehen und Fördermittel zurückzahlen, sagt die DFG.

19.09.2019

Von Ulrich Janßen

Selbstkritisch und selbstbewusst zugleich: Prof. Niels Birbaumer gestern abend im Festsaal der Tübinger Uni. Bild: Ulrich Metz

Selbstkritisch und selbstbewusst zugleich: Prof. Niels Birbaumer gestern abend im Festsaal der Tübinger Uni. Bild: Ulrich Metz

Nach der Tübinger Universität hat jetzt auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dem renommierten Tübinger Hirnforscher Prof. Niels Birbaumer in drei Fällen „wissenschaftliches Fehlverhalten“ bescheinigt. Das teilte gestern der Hauptausschuss der Organisation mit. Nach den Erkenntnissen der DFG haben Birbaumer und sein Mitarbeiter Ujwal Chaudhary Untersuchungen „nur unvollständig per Video aufgezeichnet“ und Patientendaten „nur summarisch und nicht aufgeschlüsselt aufgezeichnet“. Auch seien zahlreiche Daten „nicht verwendet worden, ohne dass dies ausreichend nachvollziehbar offengelegt“ worden sei. Insgesamt sei dadurch „eine Datentiefe vermittelt worden, die es de facto nicht gegeben“ habe.

Die größte Forschungsförderungsinstitution Europas hatte den Fall durch zwei externe Fachgutachter untersuchen lassen. Am Dienstag hatte der Hauptausschuss ihn abschließend beraten. Anlass für die Untersuchung waren zwei Aufsätze im Fachjournal PLoS Biology. Darin sollen die Wissenschaftler falsche Angaben gemacht haben. In dem 2017 erschienenen ersten und wichtigsten Aufsatz hatten Birbaumer und Chaudhary behauptet, Kontakt zu ALS-Patienten hergestellt zu haben, die keinerlei körperliche Reaktionen mehr zeigen konnten. Die Aufsätze hatten weltweit Aufsehen erregt.

Die DFG forderte Birbaumer und Chaudhary jetzt auf, die beiden Aufsätze zurückzuziehen. Außerdem sollen sie all jene Fördermittel zurückzahlen, die in die entsprechende Forschung geflossen sind. Birbaumer wurde zusätzlich für fünf Jahre von jeder Antragsberechtigung und jeder Gutachtertätigkeit ausgeschlossen. Sein Mitarbeiter Chaudhary darf drei Jahre lang keine Anträge mehr stellen. Die Sanktionen bewegten sich, erläuterte Pressesprecher Marco Finetti, „am oberen Rand der DFG-Verfahrensordnung“. Das heißt: Es sind empfindliche Strafen für die Wissenschaftler. Vor der Entscheidung seien Birbaumer und Chaudhary vom DFG-Untersuchungsausschuss getrennt und ausführlich angehört worden.

Birbaumer, der mittlerweile am Wyss-Institut in Genf forscht, erfuhr gestern mittag vom Beschluss des DFG-Hauptausschusses. Gestern Nachmittag hielt er auf dem Hirnforscher-Symposium in Tübingen einen mit viel Beifall bedachten Vortrag über seine aktuellen Forschungen. Anschließend stellte er sich auf einer improvisierten Pressekonferenz im Festsaal den Fragen von Journalisten.

Der Forscher machte keinen Hehl daraus, dass ihn die Entscheidung hart treffe – auch, „weil Patienten und junge Mitarbeiter betroffen sind“. Selbstkritisch räumte er ein, dass ihm und seinem Mitarbeiter bei der Dokumentation Fehler unterlaufen seien: „Das kann man uns mit Recht zum Vorwurf machen.“ Birbaumer wies aber auch darauf hin, dass es einen Unterschied gebe zwischen Forschungen unter Laborbedingungen und Forschungen mit schwerstkranken Patienten. Im häuslichen Umfeld müsse man Untersuchungen immer wieder unterbrechen, „weil der Zustand der Patienten dies erfordert oder technische Störungen auftreten können“. Aus diesem Grund seien Daten nicht ausgewertet und auch „nicht mit der Publikation übermittelt“ worden.

In Zukunft werde er konsequent alles aufzeichnen und zwar „so sauber wie möglich“. Dass es auch ohne DFG-Mittel eine Zukunft für die ALS-Forschung geben wird, daran ließ Birbaumer keinen Zweifel. „Ich werde nie aufgeben, diesen Patienten eine Möglichkeit der Kommunikation zu geben.“ Seit 2017 habe er seine Forschungen erfolgreich fortgesetzt, die Ergebnisse wolle er sobald wie möglich veröffentlichen. Vollkommen gelähmt zu sein, sei „ein grauenhafter Zustand“, den Betroffenen zu helfen, die wichtigste Aufgabe seines Forscherlebens.

Dass seine Methode funktioniert, davon ist Birbaumer bis heute überzeugt. Mit Hilfe von Nahfeld-Infrarotsensoren und einem Elektroenzephalogramm (EEG) könne man „Ja“- und „Nein“-Antworten auch von komplett gelähmten Patienten über eine Computerschnittstelle empfangen und auswerten. Birbaumer verwies gestern auf Fachkollegen, die keine Zweifel an seinen Ergebnissen hätten, und auf eine aktuelle japanische Studie, die zu ähnlichen Resultaten kam. Die Aufsätze in PLoS Biology werde er deshalb nicht zurückziehen.

Auch die DFG betonte in ihrer Stellungnahme, dass die Entscheidung „keine Aussage zur Validität“ der Forschungen bedeute. Es sei, meinte Pressesprecher Finetti, nur um die Arbeitsweise der beiden Wissenschaftler gegangen.

Die Tübinger Universität wird Birbaumer auf jeden Fall verlassen, dies erklärte er gestern erneut. Seine Seniorprofessur läuft Ende September aus, eine Verlängerung wird es nicht geben. Noch offen ist, wie das Disziplinarverfahren ausgeht, das die Universität wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens gegen den Forscher angestrengt hat. Erst in etwa drei Wochen rechnet Uni-Pressesprecher Karl Rijk-hoek hier mit Ergebnissen.

Offen ist auch die Zukunft der 7-köpfigen Forschergruppe. Birbaumer erklärte, dass er versuchen werde, zumindest einige der Leute in der Schweiz zu beschäftigen. Klar ist aber auch, dass der jetzige Beschluss der DFG die Karriere der jungen Forscher erheblich beeinträchtigen wird.

Auch wenn Birbaumer an der Tübinger Universität nicht mehr auftauchen wird und schon jetzt die meiste Zeit in Genf verbringt: An seinem Wohnsitz hält er fest. „Mössingen entgeht mir nicht so schnell“, sagte er. In der Steinlach-Metropole lebe er zu gern.

Alles reiner Zufall? Die Kritik an Niels Birbaumer

„Brain–Computer Interface–Based Communication in the Completely Locked-In State“ lautet der Titel des Aufsatzes in PLoS Biology, mit dem Birbaumer und Chaudhary im Januar 2017 weltweit Furore machten. Sie hätten, erklärten sie, „einen ersten Schritt zur Aufhebung der völligen Einschließung von ALS-Patienten“ getan. Im September 2017 hatte dann der Tübinger Postdoktorand Martin Spüler die Datensätze überprüft und festgestellt: „Das war alles reiner Zufall.“ Weil Birbaumer seine Bedenken nicht aufgriff, wandte sich Spüler an die Tübinger Universität. Außerdem veröffentlichte er einen Aufsatz in „PLoS“ und sprach mit Journalisten der Süddeutschen Zeitung.