Justiz

Dem Sterben eines Kindes zugesehen

Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. wird in München zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Verbrechen der Terrormiliz gegen das Volk der Jesiden.

26.10.2021

Von Dominik Baur

Lange Haftstrafe: Jennifer W. beim Betreten des Gerichtssaals. Foto: Peter Kneffel/dpa

Lange Haftstrafe: Jennifer W. beim Betreten des Gerichtssaals. Foto: Peter Kneffel/dpa

München. Es war ein schwieriger Fall, in dem das Oberlandesgericht München unter dem Vorsitzenden Richter Reinhold Baier am Montag zu urteilen hatte. Umso erstaunlicher, dass sich nach der Urteilsverkündung alle Beteiligten recht zufrieden gaben. Zehn Jahre Haft, so lautet das Urteil gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W.

Die Liste der Taten, die das Gericht als erwiesen betrachtet, ist lang und im negativsten Sinne beeindruckend: Beihilfe zum versuchten Mord, Beihilfe zu versuchten Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Vor allem lastete das Gericht der Angeklagten an, 2015 in Falludscha dem Tod eines fünfjährigen Mädchens tatenlos zugesehen zu haben, das ihr Mann und sie gemeinsam mit dessen Mutter als Sklavin gehalten hatten. Ihr Mann, der Iraker Taha al-J., habe das Kind in der sengenden Sonne an ein Fenster gefesselt, bis es bewusstlos wurde und starb. Die Aktion sollte eine Strafe dafür sein, dass das Mädchen eingenässt hatte. Taha al-J. steht deswegen derzeit in Frankfurt am Main vor Gericht.

Versteckt hinter Aktenordnern

Wie W. selbst das Urteil aufnahm, lässt sich nicht sagen. Nachdem die Kameraleute den Saal verlassen hatten, legte sie den Aktenordner ab, hinter dem sie ihr Gesicht verborgen hatte, hörte das Urteil, setzte sich und verfolgte die Urteilsbegründung mit vor sich auf dem Tisch gefalteten Händen weitgehend regungslos. Ihr Anwalt Ali Aydin jedoch ist gut gelaunt. „Ich bin glücklich“, sagt er. Er sieht in dem Urteil eine richtige Klatsche für die Bundesanwaltschaft, die „mit allen Tricks gearbeitet“ habe.

Oberstaatsanwältin Claudia Gorf wiederum, Vertreterin eben jener Behörde, tritt wenig später nicht weniger freudestrahlend aus dem Gerichtsgebäude und sagt, das Gericht sei der Anklage in allen wesentlichen Punkten gefolgt. Der Prozessbeobachter Saeed Qasim Sulaiman von der NGO Farida, die höhere Aufmerksamkeit auf den Völkermord an den Jesiden lenken will, spricht von einem „historischen Tag“ und hofft, dass noch weitere solche Urteile folgen. Und auch der Religions- und Politikwissenschaftler und baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume, der in dem Prozess als Gutachter ausgesagt hatte, zeigte sich auf Twitter froh über das „sehr klare Urteil“.

Selten löst ein Gerichtsurteil so viel Zustimmung aus. Eine klare Sache war der Fall dagegen nie. Wer will sich schon anmaßen, wirklich sagen zu können, was im Detail vor sechs Jahren in 4000 Kilometern Entfernung im Hause von Taha al-J. und Jennifer W. passierte? Jennifer W., so viel ist unstrittig, stammt aus dem niedersächsischen Lohne und ist mit 21 Jahren zum Islam konvertiert. 2014 entschloss sie sich, nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschließen. Dort heiratete sie den Iraker Taha al-J. und ging mit ihm nach Falludscha.

Nora T. und ihre Tochter waren zu der Zeit schon als Sklavinnen bei ihrem Mann. Sie waren Jesidinnen. Ihr Schicksal steht stellvertretend für das von mindestens 5000 Frauen und Mädchen, die versklavt, verkauft und vergewaltigt wurden, wie Richter Baier erinnerte. Und mit ihrer IS-Mitgliedschaft habe Jennifer W. die „Vernichtung der jesidischen Religion“ und die „Versklavung des jesidischen Volkes“ unterstützt.

Worauf sich die Bundesanwaltschaft bei ihren Vorwürfen stützte, sind vor allem Aussagen von Jennifer W. selbst. Nicht gegenüber Polizei oder Gericht, sondern in einem Chat und auch gegenüber einem FBI-Mann, dem sich Jennifer W. 2018 anvertraut hatte – im Glauben, es handele sich um einen Gleichgesinnten. Dazu kommt die Zeugenaussage von Nora T., der Mutter des getöteten Mädchens. Als schwierig erwies sich, dass Nora T.s Aussagen nicht immer belastbar waren. T., die in dem Prozess als Nebenklägerin auftrat, ist traumatisiert und wirkte im Zeugenstand immer wieder verwirrt. Regelmäßig verstrickte sie sich in Widersprüche. Dass das Gericht dennoch keine Zweifel an der Richtigkeit der Anklagepunkte hatte, begründete Richter Baier damit, dass die Aussage von Nora T. in zwei wesentlichen Punkten mit dem übereinstimmte, was Jennifer W. vor ihrer Festnahme in einem Chat und dann dem FBI-Mann erzählt hatte: dass das Mädchen gestorben und Taha al-J. deshalb vor ein IS-Gericht gestellt worden sei.

Die Angeklagte, so begründete Baier das Urteil weiter, habe damit rechnen müssen, dass das Kind sich in Lebensgefahr befand. Trotzdem habe sie nichts unternommen. Dies wäre allerdings „möglich und zumutbar“ gewesen. Jennifer W. hatte ausgesagt, sie habe sich nicht getraut, das Kind aus seiner Lage zu befreien. Sie habe Angst vor ihrem Ehemann gehabt, befürchtet, von ihm „geschubst oder eingesperrt“ zu werden. Eine Begründung, die das Gericht wenig beeindruckte.

18 potenzielle IS-Rückkehrer erwartet der Verfassungsschutz allein für das Land Niedersachsen, etwa ein Drittel davon Frauen. Bundesweit sollen es über 100 sein, knapp 150 sind bereits zurückgekehrt. Zuletzt hatte Deutschland acht Frauen mit insgesamt 23 Kindern aus Syrien ausgeflogen.

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Erstellt:
26.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 26.10.2021, 06:00 Uhr

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