Identitätspolitik

Interview: „Davor hat schon Orwell gewarnt“

In Ihrem Buch „Das Schweigen der Mitte“, beklagt Ulrike Ackermann, dass der gesellschaftliche Diskurs zunehmend verroht. Andererseits kritisiert die Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Bad Homburg das Verhalten der Eliten.

12.03.2021

Von ANDRé BOCHOW

Prof. Dr. Ulrike Ackermann Foto: privat

Prof. Dr. Ulrike Ackermann Foto: privat

Berlin. Frau Ackermann, gehören die Eliten zur Mitte der Gesellschaft?

Viele heftige Debatten in den letzten Jahren entzündeten sich von den Rändern her und polarisierten die Gesellschaft. Ein Grund dafür war die teilweise Tabuisierung bestimmter Themen, die im politisch-kulturellen Mainstream aus der Sicht vieler Menschen nicht angemessen zum Ausdruck kamen.

Zum Beispiel?

Nehmen wir den Umgang mit Minderheiten oder mit Migration. Von rechts wird ein ethnisch homogenes Volk propagiert, von links wird die Vielfalt in den höchsten Tönen gelobt. Da prallen zwei Positionen hart aufeinander.

Das wird an den Universitäten eher selten der Fall sein.

Hier dominiert in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein links-liberaler Geist. Immer stärker setzt sich jedoch eine doktrinäre linke Identitätspolitik durch, die die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ernsthaft gefährdet. Das sind schlechte Voraussetzungen für künftige Leistungsträger in Chefetagen, Redaktionen oder in die Politik, die später die öffentliche Meinung bestimmen.

Ist es nicht normal, dass die Eliten anders denken als die Mehrheit?

Das heißt doch aber nicht, dass die Eliten immer richtig liegen. Das Problem liegt in der immer größer werdenden Kluft zwischen großen Teilen der Bevölkerung und Eliten. Wir können es weltweit beobachten. Nicht zuletzt in den USA, wo das alles in Hass umgeschlagen ist. Und da müssen sich die Eliten fragen, welchen Anteil sie an dieser Spaltung haben.

Und die Antwort lautet, dass es oft vor allem moralisierende Rechthaberei gibt?

Genau. Es wird viel zu oft nicht um ein Argument gerungen, um Inhalte, sondern es geht um verletzte Gefühle diverser Gruppen. In diesen Gruppen dominiert oft das Gefühl Opfer zu sein. Und diese Opfergruppen geraten dann auch noch miteinander in Konkurrenz. Jede Gruppe beansprucht einen eigenen Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit.

Eine mehrfache Spaltung der Gesellschaft?

Ja. Eine hochgefährliche Zersplitterung. Hochgefährlich deshalb, weil die eigentlichen Benachteiligungen aus dem Blick geraten und der Machtanspruch von Gruppen in den Vordergrund tritt.

Nicht zuletzt in der Sprache wird versucht, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen zu tilgen.

Sprache drückt den Zustand einer Gesellschaft aus. Sie entwickelt sich. Da kann man nicht per Dekret festlegen, was jetzt richtig oder falsch ist. Davor hat schon George Orwell gewarnt. Das ist übergriffig und erinnert an Umerziehung. Außerdem verdeckt zum Beispiel das Gezerre um das Gendern in der Sprache die wirklichen Probleme – etwa das Lohn-und Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen. Und den Frauen, die geschlagen, sexuell ausgebeutet oder um ihre Aufstiegsmöglichkeiten gebracht werden, helfen die Gender-Sternchen kein bisschen.

Sprache muss sich also mit der Gesellschaft zusammen entwickeln? „Neger“ sagt auch niemand mehr.

Auch „Fräulein“ nicht. Die „Tussi“ ist ebenfalls fast verschwunden. Ganz ohne Verbote. Gegen Beleidigungen kann man klagen.

Identitätspolitik wird grade sehr intensiv diskutiert. Ein Wandel?

Erfreulicherweise scheint es so. Das wird aber auch Zeit. Es denken jetzt doch wieder mehr über das nach, was im Grundgesetz steht. Das Grundgesetz verbietet Diskriminierung und ist gewissermaßen farbenblind. Jeder ist gleich vor dem Gesetz. Das bedeutet aber auch, dass niemandem Sonderrechte zustehen, weil er einer bestimmten Gruppe angehört.

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Erstellt:
12.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 33sec
zuletzt aktualisiert: 12.03.2021, 06:00 Uhr

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