Videoüberwachung in der Schellingstraße war illegal

Datenschutzbeauftragter kritisiert Staatsanwaltschaft wegen der Observation des Wohnprojekts

Einen Rüffel aus Stuttgart gab’s jetzt für die Tübinger Staatsanwaltschaft: Der Landesdatenschutzbeauftragte bestätigt, dass die Bewohner des Wohnprojekts Schellingstraße 6 von der Polizei videoüberwacht wurden – und zwar fast einen ganzen Monat lang, vom 4. bis 29. Juli 2016, stets über Nacht von 22 bis 6 Uhr.

19.10.2017

Von Volker Rekittke

Bewohner/innen der Schellingstraße 6 wurden ohne richterlichen Beschluss fast einen Monat lang von der Polizei videoüberwacht.Bild: Metz

Bewohner/innen der Schellingstraße 6 wurden ohne richterlichen Beschluss fast einen Monat lang von der Polizei videoüberwacht.Bild: Metz

Gerügt wird, dass die Tübinger Staatsanwaltschaft dafür keine richterliche Anordnung eingeholt hat, nicht einmal im Nachhinein – das sei eine „datenschutzwidrige Vorgehensweise“. Auch eine nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen über die Observierung sei nicht erfolgt, obwohl dies „ohne größeren Aufwand möglich und angemessen gewesen wäre“, kritisieren die Datenschützer.

Nachdem im Juni 2016 vier Autos in Tübingen abgebrannt waren und auf linken Internetseiten ein vermeintliches Bekennerschreiben dazu aufgetaucht war, hatte die Polizei angekündigt, verstärkt auf die „autonome Szene“ zu achten.  Die Bewohner der Schellingstraße 6 waren zufällig durch einen Nachbarn auf die geplante Überwachung aufmerksam geworden. Polizisten hatten ihn gefragt, ob sie eine Kamera zur Überwachung des Eingangsbereichs im Haus gegenüber bei ihm installieren könnten. Der Mann lehnte ab (wir berichteten).

Ein Jahr lang bemühten sich die Schellingstraßen-Bewohner um Auskunft bei den Behörden. Erst seit dem Antwortschreiben aus Stuttgart ist klar, dass das Wohnprojekt polizeilich observiert wurde. „Irgendwo brennen Autos und dann überwacht man linke Wohnprojekte. Das ist völlig unverhältnismäßig“, findet Moritz Tremmel. Er wohnt seit sechs Jahren in der Schellingstraße 6 und beschäftigt sich schon länger mit Überwachung und Datenschutz. Die Observation so vieler Menschen ohne konkreten Tatverdacht sei eine „schwerwiegende Verletzung von Grundrechten“ – und betreffe nicht nur die mehr als 100 Bewohner/innen des Hauses, sondern auch unzählige Besucher und möglicherweise sogar Passanten, die auf dem Gehweg vorbeigingen.

„Zusammen mit unserem Anwalt prüfen wir rechtliche Schritte“, sagt Tremmel. Er vermutet, dass in Tübingen nicht nur das Wohnprojekt in der Schellingstraße polizeilich überwacht wurde – auch in der Ludwigstraße („Lu“) 15 hätten Bewohner Beamte dabei beobachtet, wie diese Namen auf Briefkästen abfotografierten.

„Es gab keine weiteren Video-Überwachungen“, sagt der Leiter der Tübinger Staatsanwaltschaft Michael Pfohl auf TAGBLATT-Nachfrage. Und bei der Kamera-Observation der Schellingstraße 6 seien die aufgezeichneten Daten jeweils nach 24 Stunden überschrieben worden – schon aus Gründen der Speicherkapazität. Beamte hätten die Aufzeichnungen zwar angeschaut, aber weil keine weiteren Autos in Tübingen brannten, seien keine Personen identifiziert und die Bänder auch sonst nicht ausgewertet worden. Nach Ende der Überwachung sei das Material „umgehend gelöscht“ worden. Das Verfahren wegen der brennenden Autos sei Ende Dezember 2016 eingestellt worden, so Pfohl: „Es konnte kein Täter ermittelt werden.“

Der Rüffel der Stuttgarter Datenschützer hat nun allerdings Folgen für die Tübinger Staatsanwaltschaft. Es habe unterschiedliche Rechtsauffassungen gegeben, ob ein richterlicher Observationsbeschluss nötig gewesen wäre, räumt Pfohl ein: „Da haben wir als Staatsanwaltschaft dazugelernt.“ Künftig, das ordnete Pfohl als Konsequenz an, muss jeder Mitarbeiter seiner Behörde sich stets eine richterliche Anordnung besorgen.

Datenschützer kritisieren geplantes Polizeigesetz

Der Landesbeauftragte für Datenschutz (LfDI) nahm am 7. August Stellung zur von Grün-Schwarz geplanten Änderung des Polizeigesetzes, in der es auch um „intelligente Videoüberwachung“ geht: „Wer an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen geht, provoziert zwei Konsequenzen: Er überantwortet die Letztentscheidung zu sicherheitspolitischen Fragen dem Verfassungsgericht und er läuft Gefahr, Anlass und Zweck der Sicherheitsnovelle aus den Augen zu verlieren. Ob die neu eingeführten bzw. verschärften Sicherheitsinstrumente überhaupt auf die bereits beobachteten oder zu erwartenden terroristischen Gefahren in unserem Land abgestimmt und damit erfolgversprechend sind, ist aus Sicht des LfDI nicht zu erkennen. Zudem hat keines der neuen Sicherheitsinstrumentarien bislang seine Wirksamkeit unter Beweis gestellt. Dass sie zu einer Verbesserung der Sicherheitslage führen werden, ist daher lediglich eine mehr oder weniger plausible Vermutung.“

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Erstellt:
19.10.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 44sec
zuletzt aktualisiert: 19.10.2017, 01:00 Uhr

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Spielbergle 20.10.201711:03 Uhr

"Es habe unterschiedliche Rechtsauffassungen gegeben, ob ein richterlicher Observationsbeschluss nötig gewesen wäre, räumt Pfohl ein: „Da haben wir als Staatsanwaltschaft dazugelernt.“" - Das soll wohl ein Witz sein!? Skandalös!!

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