Anlauf zu einem Saalbau seit über 150 Jahren

Das lange Warten auf die Halle

Reutlingen feiert seine Stadthalle – und hier ist vom ständigen Scheitern die Rede? Nicht nur. Doch zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass die Stadt einen besonderen Grund hat, sich über die neue Halle zu freuen.

04.01.2013

Schon vor 150 Jahren führte man in Reutlingen Klage darüber, dass es keinen passenden Versammlungsraum gebe. Selbst die Listhalle wurde bei ihrer Eröffnung im Jahr 1938 als Provisorium gehandelt. Wohl taugte sie als NS-Versammlungshalle – aber wenig für Konzerte und Theateraufführungen.

Schon 1876 sammelte der Liederkranz Geld für den Neubau einer Liederhalle. Doch seine Bemühungen reichten wie so viele andere nur für die Planung: Hier ein Entwurf aus dem Architektenwettbewerb im Jahre 1906.

Schon 1876 sammelte der Liederkranz Geld für den Neubau einer Liederhalle. Doch seine Bemühungen reichten wie so viele andere nur für die Planung: Hier ein Entwurf aus dem Architektenwettbewerb im Jahre 1906.

Reutlingen und seine Stadthalle(n), das ist eine lange Geschichte – eine Geschichte mit einem heimatpoetischen Anklang. Den verdanken wir dem Lateinschullehrer Carl Bames und seiner „Chronica“, in welcher er ein für Reutlinger Verhältnisse einzigartiges Ereignis in Verse fasste.

Standen bis dahin für größere Veranstaltungen nur Nebenräume von Gasthöfen zur Verfügung – und für Theateraufführungen der Schlachthof am Ledergraben, markiert der Samstag, 5. Januar 1861, eine Zäsur: Mit dem ersten Fruchtmarkt des Jahres wurde die neue Waag- und Fruchthalle am Marktplatz eröffnet und mit ihr im Obergeschoss ein großer Saal. Groß für damalige Verhältnisse: 20 auf 14 Meter – oder, in württembergischer Maßeinheit, 70 Fuß lang und 50 Fuß breit.

Bames jubiliert: „Nun hat man endlich doch einmal/ In Reutlingen wieder einen Saal, Wo Raum genug ist jederzeit,/ Wenn es gibt eine Gelegenheit;/ Einen städtischen Saal, wo jeder Mann/ Mit Weib und Kind sich freuen kann!“

Zum ersten Fruchtmarkt am 5. Januar 1861 wurde die neue Fruchthalle am Marktplatz eröffnet (hinten links) und mit ihr ein saal im Obergeschoss. 1872 wurde das Rathaus in die Fruchthalle verlegt.

Zum ersten Fruchtmarkt am 5. Januar 1861 wurde die neue Fruchthalle am Marktplatz eröffnet (hinten links) und mit ihr ein saal im Obergeschoss. 1872 wurde das Rathaus in die Fruchthalle verlegt.

Bis zum Jahr 1861 muss die Misere eine große gewesen sein, wenn wir Bames Glauben schenken dürfen: „Der Kronensaal gieng längst schon ein,/ In der Sonne ist er eng und klein,/ Im Bad ist es geschlossen ganz/ Und in dem Ochsen ist Vakanz;/ Für jeden geselligen Verein/ Sind alle Lokale viel zu klein (...)/ Drum faßte unsere hoher Rath / Den löblichen Entschluß, in unserer Stadt/ Zu bauen einen großen Saal,/ Der nicht zu kurz ist und nicht zu schmal (...)/“

Bames war nicht der Einzige, der unter dem Mangel litt – der mit diesem „großen Saal“ offenbar nicht behoben war. Schon 1876 sammelte der Liederkranz bei einem von ihm veranstalteten Basar Geld für eine Liederhalle und war wohl selbst ganz gut bei Kasse.

Freilich dauerte es noch ein paar Jahre, bis der Verein mehrere Grundstücke im Quartier von Schul-, Bismarck- und Kaiserstraße erwarb. Erst 1898 und 1899 verfügte der Liederkranz durch Kauf und Tausch über 71 Ar. Die Mittel reichten noch dafür, im Jahr 1906 einen Architektenwettbewerb auszuloben. Zu mehr reichten sie aber dann doch nicht. Zwischen 400.000 Mark und 900.000 Mark hätte die Realisierung der eingegangenen Entwürfe gekostet.

Auch in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts war die Saalbaufrage virulent. Es gab wieder Pläne, den Spitalhof umzubauen, die aber an den finanziellen Möglichkeiten der Stadt scheiterten.

Auch in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts war die Saalbaufrage virulent. Es gab wieder Pläne, den Spitalhof umzubauen, die aber an den finanziellen Möglichkeiten der Stadt scheiterten.

Das Risiko schien einfach zu hoch. Und die Reutlinger waren gar nicht so erpicht auf eine teure Liederhalle – zumindest nicht, als die pekuniären Probleme ihr Engagement erforderten. Gerade mal 25.828,02 Mark waren in den Liederhallenbaufonds einbezahlt worden – und im Jahr 1909 nur 161 Mark.

Der Liederkranz war zwar der erste, nicht aber der einzige Protagonist für eine Halle. Im April 1908 beschloss die Mitgliederversammlung der Museumsgesellschaft, eine Saalbaugesellschaft zu gründen. Aber auch die Museumsgesellschaft, die am Karlsplatz eine Gaststätte mit Versammlungsraum unterhielt und dort ein geeignetes Grundstück besaß, scheiterte mit ihren hochfliegenden Plänen. Hotel, Restaurant, ein Saal für 1.200 Leute, Bühne und Vereinsräume: das war einfach nicht zu machen.

Die vom Stuttgarter Architekten Paul Bonatz übernommene Ausschreibung des Ideenwettbewerbs für württembergische Architekten brachte zwar 86 Entwürfe. Doch der Mehrheit der Museumsvereinsmitglieder war die Sache zu heikel. Sie stornierte aus Kostengründen, obzwar mit der Hälfte des Geschäftskapitals von 300.000 Mark auch Reutlinger Industrielle an Bord waren.

Eine dankbare Quelle für die Versuche des Liederkranz? und der Museumsgesellschaft ist der Reutlinger Kaufmann Ernst Fischer (1854 - 1922). In seiner Familienchronik widmet er in penibler Handschrift den Bemühungen beider Vereine mehrere Seiten.

Gläserne Kuben begeisterten zwar den gemeinderat, nicht aber die Bürger. Sie verhinderten das 86,8 Millionen-Euro Projekt mit einem Bürgerentscheid.

Gläserne Kuben begeisterten zwar den gemeinderat, nicht aber die Bürger. Sie verhinderten das 86,8 Millionen-Euro Projekt mit einem Bürgerentscheid.

Das Scheitern dieser beiden renommierten Vereine vor Augen, wollten es andere mit kapitaler Kraft besser machen. Aber auch ihre Absichten, von Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise durchkreuzt, lösten sich im Planungsstadium auf.

Vielleicht hätte es 1915 zu einem signifikanten Datum geklappt. Anlässlich der für dieses Jahr geplanten Gewerbeschau stellte man 1914 die Hallenfrage erneut. Mit Paul Schmohl plante ein renommierter Stuttgarter Architekt. Und die Stadt hätte sich mit 400.000 Mark an dem Projekt beteiligt.

Wozu es freilich nicht kam – weshalb der Stadtgarten heute immer noch Stadtgarten ist. Denn diesen hatte Schmohl für seinen Bau mit kleinem und großem Saal, mit Bühne und Wirtschaft als Standort ausgeguckt. Der Erste Weltkrieg vereitelte auch die 1915 vom Fabrikanten Emil Gminder beauftragte Planung des Stuttgarter Architekten Paul Bonatz.

Danach sollte der Spitalhof zu einem Volksbildungshaus mit Schwimmbad und Saal für zunächst 1.000 (nach einer Revision der Pläne für 400) Plätze umgebaut werden.

Für die Saalnot war kein Ende abzusehen. Daran änderte im Jahr 1923 auch die Erweiterung des Lindachsaals der ehemaligen Brauerei Siber und Speiser nichts. Die Saalbaufrage blieb virulent. 1926 hat sich ihr das Bankhaus Ruoff, Quenzer & Cie angenommen und, wie zuvor die Museumsgesellschaft, den Karlsplatz als geeigneten Ort für Hotel mit Zunftkeller, Konzertsaal, Kino und Volksbad ausgeguckt.

Man kann es schon an dieser Stelle vorwegnehmen: Aus dem mit 4,1 Millionen Mark veranschlagten Projekt wurde nichts – aus Kostengründen. 1,3 Millionen waren für den Saal vorgesehen, auf dessen Bühne 500 Sänger Platz gefunden hätten. Bad, Kino und Hotel sollten Gewinn abwerfen und die Halle finanzieren. Dabei war in der damals 32.000 Einwohner zählenden Stadt der Verkauf von 300.000 Kinokarten jährlich eingeplant.

75 Jahre später scheiterte auch die Stadt mit ihrer Idee eines Kultur- und Kongresszentrums auf dem Bruderhausareal. Nach Plänen der Düsseldorfer Architekten Schuster & Schuster sollten dort in drei gläsernen Kuben auf einem acht Meter hohen Sockel ein Konzertsaal mit 1.100, ein Bürgersaal mit 2.000 und ein kleiner Saal mit 400 Plätzen entstehen.

Am 20. Oktober 2002 platzte der Traum mit einem Bürgerentscheid, bei dem 25.235 Reutlingerinnen und Reutlinger mit Nein stimmten, und die mussten sich weitere Jahre mit der 1938 eröffneten Listhalle begnügen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Info: Wir danken dem Reutlinger Stadtarchiv für Bilder und wertvolle Hinweise und empfehlen die aktuelle Vitrinenausstellung zur 150-jährigen Stadthallen-Geschichte im Erdgeschoss des Reutlinger Rathauses.

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Erstellt:
04.01.2013, 12:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 05sec
zuletzt aktualisiert: 04.01.2013, 12:00 Uhr

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