Festival

Das große Rauschen

100 Jahre Donaueschinger Musiktage: Das Neutönertreffen blickt nach vorne – mit einem Straßenmusik-Happening und Klängen aus anderen Kulturen.

19.10.2021

Von Otto Paul Burkhardt

„Donau/Rauschen – Transit & Echo“ hieß dieses Kollektiv-Werk zum 100. Geburtstag der Donaueschinger Musiktage – eine Landschaftskomposition von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg mit Volksfestcharakter.

„Donau/Rauschen – Transit & Echo“ hieß dieses Kollektiv-Werk zum 100. Geburtstag der Donaueschinger Musiktage – eine Landschaftskomposition von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg mit Volksfestcharakter.

Donaueschingen. Goldener Oktober, blauer Himmel, strahlende Nachmittagssonne – und überall tönt und braust es in der Stadt. Ein wunderlicher Surround-Sound waberte am Samstag durch die Gassen. Aus Lautsprechern dringen Donau-Geräusche: Es rauscht und sprudelt, plätschert und gluckst, zuweilen sind Möwen zu hören, quakende Frösche, blubbernde Schiffsmotoren, Pegelstände, gesampelte Sounds aus Wien, Budapest oder Belgrad. Hunderte Menschen aus Vereinen machen dazu Live-Straßenmusik, erzeugen gemeinsam schwebende, langgezogene, geschichtete Klänge. Musik überall, vor den Läden, aus Fenstern, von Balkonen herab.

„Donau/Rauschen – Transit & Echo“ hieß dieses Kollektiv-Werk zum 100. Geburtstag der Donaueschinger Musiktage – eine Landschaftskomposition von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg. Am Ende sammeln sich alle vor dem Rathaus zu einem Happening mit Volksfestcharakter, doch frei von Anklängen an Gewohntes: gedehnte Bläserakkorde, bizarre E-Gitarren, tosendes Schlagwerk. Die Donau, die Musik, das Miteinander bringt Menschen zusammen – im Spielen und Erkunden, Hören und Staunen.

Und sonst? Nach covidbedingter Pause 2020 leistete sich das weltweit älteste und bedeutendste Festival für Neue Musik zum 100. Geburtstag ein extra üppiges Programm. Mit einem weiteren, heftig debattierten Finalknaller beim Schlusskonzert am Sonntag, dem Oratorium „The Red Death“ des Italieners Francesco Filidei. Der apokalyptische Plot bedient sich bei Dante, Shakespeare, Camus und Buñuel: Während ringsum die Welt an einer Seuche zugrunde geht, schottet sich eine vermögende Elite um den dubiosen Anführer Prospero ab und durchläuft eine gemeinsame Läuterung, um sich von den sieben Todsünden zu befreien.

Was wie eine endzeitliche Literaturcollage anmutet – passend zur Lockdown-Erfahrung, ist auch musikalisch ein Remix von Moderne-Stilen – passend zum Festival-Geburtstag. Sylvain Cambreling steuert ein XXL-Ensemble aus Chören, SWR Symphonieorchester und Top-Solisten wie Dietrich Henschel mit größtmöglicher Präzision durch die Partitur – rund 130 Mitwirkende beschallen nahezu rundum das Publikum in den Donauhallen. Zurück bleibt ein zwiespältiger Eindruck, denn diese „Passion über das Leid der Zeit“ entpuppt sich phasenweise, pardon, auch als Riesenschmarren, der haarscharf an edelkitschigem Filmmusik-Pomp vorbeistreift.

Cambreling inszeniert Filideis monströses Werk denn auch als flirrend postmoderne Kolportage, als feingewebtes Zaubernetz luxuriöser Anklänge von Ravel bis Messiaen, Honegger bis Schönberg, John Adams bis Helmut Lachenmann. Musik mit Überwältigungsfaktor: hier süffig bis süßlich, dort stark, betörend, grandios. Viel Beifall, ein paar Buhrufe. Dass das SWR Symphonieorchester just diese Retro-Anklänge mit dem Orchesterpreis auszeichnete, darf als Statement gewertet werden.

Alles Rückblick also? Nein, denn Festivalleiter Björn Gottstein legte den Akzent auf Zukunft, auf Diversität, auf Postkoloniales. Unter dem Motto „Donaueschingen Global“ war Musik aus Nahost, Afrika, Lateinamerika und Zentralasien zu hören. So bot das usbekische Omnibus Ensemble mit west-östlichen Instrumenten eine Performance, die sich zwischen Tanz, Theater und Ritual bewegte – vorbei an Folklore-Klischees, mit experimentellem Zuschnitt.

Klar gab es auch quantitative Rekorde: 12 000 Besucher, 27 Uraufführungen – und das dickste Begleitheft aller Zeiten. Qualitativ? Ein paar Höhepunkte seien herausgegriffen: Als stromstarker Kracher erwies sich etwa „under_current“ von Stefan Prins, ein furioses Werk für E-Gitarre mit Yaron Deutsch und dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Ilan Volkov. Dagegen wirkte Liza Lims Klavierkonzert „World as Lover, World as Self“ wie Nostalgie à la Rachmaninow – mit vollgriffiger Poesie im Solopart von Tamara Stefanovich.

Mit viel Slapstick

Apropos Wasser: Gluckernde Atmo-Sounds fanden sich auch in Christian Masons „Somewhere in the distance”, ein Raumklangopus, in dem Baldur Brönnimanns Lucerne Festival Contemporary Orchestra zuweilen Gershwin-Glamour aufblitzen ließ. Um durchgeknallte Konzertideen wiederum ging es in „Plans“, einer Musiksatire von Øyvind Torvund, realisiert vom Klangforum Wien mit viel Slapstick, Alarmgehupe und famosen Mahler-Schwelgereien.

Fazit: Ein Ausnahme-Programm. Kaum Selbstbespiegelung. Eher eine Weitung des Blicks. Und ein bisschen Wehmut. Musiktagechef Björn Gottstein, den 2022 Lydia Rilling ablöst, verabschiedete sich am Ende so: „Sie sind das beste Publikum der Welt!“

Eine Ära geht zu Ende

Es waren sieben reiche Jahre. Björn Gottstein, seit 2015 künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage, steuerte das Festival mit ruhiger Hand durch bewegte Zeiten des Umbruchs – heraus aus den alten Grabenkämpfen der Altvorderen und hinein in die Debatten um eine zukünftige Positionierung von Gegenwartsmusik. Eher behutsam als lautsprecherisch erkundete er neue Konzertformen, rückte ab von der Männerdominanz und nahm Musik anderer Kulturen mit ins Boot. op