Pandemie

Das Tübinger Corona-Wagnis

Die dritte Welle rollt, doch in Tübingen öffnen Händler, Wirte und Kultur – mit Test-Pflicht und Tagesticket. Ein Experiment zwischen Hoffnung und Risiko.

19.03.2021

Von EIKE FREESE

An Hinweisen mangelt es in der Innenstadt nicht. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

An Hinweisen mangelt es in der Innenstadt nicht. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Tübingen. Null Grad, grauer Himmel – aber um 9.20 Uhr an diesem tristen Donnerstag am Neckar hört immerhin der Schneeregen auf. Das ist angenehm, denn vor der Corona-Test-Station am großen Modehaus Zinser in der Tübinger Innenstadt frösteln schon rund 60 Menschen in einer langen Schlange. Sie wollen einkaufen, Kaffeetrinken oder arbeiten, und dafür brauchen sie das „Tübinger Tagesticket“: den Schlüssel zum Glück, mitten in der Pandemie. „Es ist schon heftig, hier fast eine Stunde zu warten“, sagt Studentin Christiane Blohm, die vor einer der aktuell acht Stationen steht: „Aber letztlich kann ich dann alles machen, was in anderen Städten nicht geht.“

Tübingen ist vom Land als Modell-Stadt für Corona-Lockerungen anerkannt. Kultur, Außengastronomie, Handel: Alles darf öffnen für Kunden, die aktuelle negative Schnelltests vorzeigen. Und zwar zunächst unabhängig davon, ob die Inzidenz bei 20, 30 oder 50 liegt. Aktuell liegt sie bei 52,9. Unternehmer feiern die „Tübinger Teststrategie“, die die örtliche DRK-Präsidentin Lida Federle ersonnen hat und für die OB Boris Palmer (Grüne) medial trommelt. „Power to the Popel“ heißt der Slogan des Handels- und Gewerbevereins: Für die begehrten Türöffner-Tickets reicht nämlich ein einfacher Nasenabstrich, der „Popel-Test“.

„Hier wird etwas ausprobiert, das macht uns allen endlich Mut“, sagt Barbara Rongen, Boutique-Besitzerin und HGV-Vorstand. Rongen ist fast pleite, das sagt sie rundheraus: „Mein Laden hat in der ersten Woche der Lockerung erstmals nach drei Monaten wieder Geld verdient. Wir müssen auf diesem Kurs bleiben.“

Endlich wieder Geld verdienen: Das ist auch die Vision von Sabine Hagmann, Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands im Südwesten. Die Tübingerin vertritt die Interessen von 40?000 Einzelhändlern im Land – und sagt: „Diese Schnelltests sind eine super Sache. Doch wenn sie verpflichtend sind, dann schaden sie mehr, als sie nutzen.“ Ohne Tagesticket kommt man in der Innenstadt nämlich nicht weit. Nur in Buchläden, Gartenshops, Geschäfte des „täglichen Bedarfs“. „Der normale Einzelhandel aber kann sogar mit gewöhnlichem Abhol-Service mehr verdienen als mit dieser Hürde“, sagt Hagmann. Wer einfach ein paar Socken kaufen möchte, wolle nicht vorher eine halbe Stunde vor dem Testzelt frieren.

Für Alexander Stagl bleibt das Experiment rundum positiv. Der gebürtige Wiener führt das örtliche Premium-Haus „Hotel Krone“. „Ich glaube, wir können glücklich sein, dass wir einen Bürgermeister haben, der sich etwas traut“, sagt Stagl. Der Gastronom gab in der Krise stets den unerschütterlichen Durchhalter, im Lockdown bestückte er eine Bratwurst-Hütte, damit überhaupt was läuft. „Wichtig ist jetzt, dass wir es durchziehen“, findet Stagl. Nur so helfe das System und bleibe nicht nur Symbolpolitik.

Dazu gehört auch, die Schnelltests auszuweiten: Mehr Stationen, mehr Helfer und, für Gastro wichtig, auch am Sonntag. „Wir steuern jeden Tag nach, aber das ist viel besser, als weiter zu zögern“: Das sagt Tübingens OB Boris Palmer. Ihm geht es darum, die Innenstadt vor einer Pleite-Welle zu bewahren. Doch die Test-Strategie bedeutet mehr: Massiv und verpflichtend getestet werden Menschen auch an Schulen, vor Theatern, in Kinos, bei Friseuren. „Damit können wir Leute, die nicht dachten, dass sie krank sind, in Quarantäne schicken und haben einen Sicherheits-Vorteil“, so Palmer. Tübingen als Vorreiter im Kampf gegen Corona, mal wieder. Neulich, so Palmer, hat Münchens OB Dieter Reiter (SPD) angerufen und sich erkundigt, wie das System läuft.

Dienstagabend, Landestheater Tübingen: Palmer steht in Jeans, hellem Sakko und all seiner Schlaksigkeit auf der Bühne und tanzt. Das Theater hat gerade die Premiere des Stücks „Irgendwo, irgendwie, irgendwann“ hinter sich, der Saal tobt. Vorher hatte sich die Tübinger Kultur-Bohéme von der Biotech-Firma Cegat Wattestäbchen in die Nasen bohren lassen. Später dann Tränen der Rührung – und draußen die Pandemie. Die dritte Welle bleibt auch am Neckar nicht unbemerkt. 72 Prozent von 8000 Tübingern sagten in einer Online-Umfrage, sie halten den Versuch für zu riskant. Repräsentativ ist das nicht, doch ein Hauch von Wagnis liegt in der Tübinger Luft. Auch, weil die Schnelltests keine hundertprozentige Sicherheit geben.

„Wir beobachten die Situation ganz genau, das können Sie uns glauben“, sagt Lisa Federle, die Erfinderin des Massentestens. Die Ärztin und Verdienstkreuz-Trägerin versichert, dass das Tübinger Modell eines auf Abruf ist, wenn die Infektionszahlen durch die Decke gehen sollten. An der Inzidenz, so Palmer, solle das aber nicht ausschließlich festgemacht werden. Die Hoffnung ist, dass das Tübinger Modell so weitergehen kann, bis die Umstände ein Lockern ohne Tests erlauben.

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Erstellt:
19.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 17sec
zuletzt aktualisiert: 19.03.2021, 06:00 Uhr

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