Tübingen · Bundestagswahl

TAGBLATT-Podium: Das Thema Klima überlagert alles andere

Beim TAGBLATT-Podium stellten sich am Mittwoch fünf Kandidatinnen und Kandidaten etwa 200 Interessierten in der Panzerhalle im Französischen Viertel in Tübingen und vor dem heimischen Bildschirm vor.

16.09.2021

Von Renate Angstmann-Koch

TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert (links) als Moderator und Julian Grünke (FDP) auf der Bühne. Bild: Ulmer

TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert (links) als Moderator und Julian Grünke (FDP) auf der Bühne. Bild: Ulmer

Anpacken wollen sie alle im Bundestag und als Ansprechpartner im Wahlkreis – das versprachen die Kandidatinnen und Kandidaten immer wieder. Am lebhaftesten wurde es, als Annette Widmann-Mauz (CDU), Chris Kühn (Grüne) und Martin Rosemann (SPD) gemeinsam auf die Bühne kamen – und damit alle drei Bundestagsabgeordneten, die sich Hoffnung auf das Direktmandat im Wahlkreis Tübingen machen und um Erststimmen kämpfen.

Seit 2002 behielt jeweils Annette Widmann-Mauz die Oberhand, doch dieses Mal ist im Bund wie vor Ort vermutlich alles drin. „Der Bundestagswahlkampf ist spannend wie nie“, sagte TAGBLATT-Chefredakteur Gernot Stegert, als er das von ihm moderierte Wahlpodium eröffnete. Für Widmann-Mauz, seit 2018 Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt, geht es bei der Wahl auch persönlich um viel: Anders als ihre Konkurrenten hat sie wegen der voraussichtlich hohen Zahl direkt gewählter CDU-Abgeordneter in Baden-Württemberg wohl keine Chance, über die Landesliste ins Parlament zu kommen.

Wie sie wollen auch die anderen vier Kandidaten, die sich in der Panzerhalle präsentierten, bis zuletzt um jede Stimme kämpfen – das wurde am Mittwochabend deutlich. Das TAGBLATT hatte auch den Bewerber der AfD aufs Podium geladen. Ingo Reetzke sagte zunächst auch zu, meldete sich jedoch am frühen Mittwochnachmittag ab, weil er meinte, es sei nicht genug für seine Sicherheit gesorgt. Vor anderthalb Wochen hatte er eine „linksextreme Morddrohung“ erhalten. Wie ernst sie genommen werden muss, werden Polizei und Staatsanwaltschaft prüfen, sagte Stegert. Drohungen gegen Sachen und Personen hätten mit Politik nichts zu tun, „wir bedauern solche Vorfälle“. Man bedauere aber auch, dass Reetzke seine Absage in einer Pressemitteilung politisch instrumentalisiert habe und von einem „bundesweiten politisch-medialen Komplex“ spreche, der angeblich Terror gegen die AfD dulde. Gegen solche Vorwürfe „verwahren wir uns entschieden“, stellte Stegert klar.

So blieb für die Befragung der anderen fünf Kandidaten, die fast eindreiviertel Stunden dauerte, entsprechend mehr Zeit. Sie stellten sich und ihren Politikstil jeweils mit einer Geste vor. Annette Widmann-Mauz will „mit Herz und Verstand“ Politik machen. Neu im Programm habe sie und die CDU einen „nationalen Aktionsplan Familie“, erklärte sie auf Nachfrage. Er solle mit Bund, Ländern und Kommunen, aber auch mit den Betroffenen und ihren Verbänden „auf Augenhöhe“ erarbeitet werden.

Chris Kühn, bau- und wohnungspolitischer Sprecher seiner Fraktion, legte die Hände zusammen als Symbol für den nötigen Zusammenhalt der Generationen. Neu im Programm der Grünen sei das „Energiegeld“, das Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit verbinde – eine Rückvergütung pro Kopf aus CO2-Preis-Einnahmen, mit der Familien – gerade solche mit wenig Einkommen – entlastet werden sollen.

Chris Kühn (Grüne), 42. Bild: Ulmer

Chris Kühn (Grüne), 42. Bild: Ulmer

Martin Rosemann, stellvertretender Sprecher der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der SPD-Fraktion, will angesichts des Tempos, mit dem Klimaneutralität erreicht werden müsse, die Ärmel hochkrempeln und anpacken. Im „großen Wandel“ müsse Deutschland gleichzeitig ein starkes Industrieland bleiben, und man müsse Arbeitsplätze erhalten.

Auch Julian Grünke, Student der Politikwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre, außerdem Stadtverbandsvorsitzender der FDP, will „zupacken und anpacken“. Neu habe die FDP die „Aktienrente“ nach skandinavischem Vorbild im Programm: „Wir müssen endlich was tun, weil das Rentensystem ganz ohne Tempolimit an die Wand fährt“.

Heike Hänsel, stellvertretende Vorsitzende und Leiterin des Arbeitskreises Außenpolitik der Linksfraktion, zeigte einen offenen Handschlag als Einladung zu Gespräch und Austausch. Auch die Linke habe sich verstärkt mit dem Klimawandel beschäftigt und einen „Aktionsplan Klimagerchtigkeit“ erarbeitet.

Nach einer ersten Runde, in der es um lokale und regionale Projekte ging (wir berichteten in der Donnerstagausgabe), kamen die Kandidaten einzeln an die Reihe. Freiheit bedeute für ihn nicht nur Freiheit von Zwang, sondern auch „Freiheit zu etwas“ und Verantwortung, sagte Grünke. Er forderte mehr Geld für frühkindliche Bildung. Ansonsten solle sich der Staat auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Für die nötigen „gewaltig vielen Investitionen“ müsse man privates Kapital mobilisieren. Man müsse das Wachstum ankurbeln und die Unternehmen bürokratisch entlasten, um sie zu „entfesseln“. Dann gäbe es auch mehr Steuereinnahmen.

Heike Hänsel (Linke), 55, Bild: Ulmer

Heike Hänsel (Linke), 55, Bild: Ulmer

Hänsel wurde zur Außenpolitik befragt, etwa zu Russland und China. Die USA seien weltweit die größte Militärmacht mit mehr als 1000 Basen, sagte die Linken-Abgeordnete. Russland versuche seinen Einfluss in der Region auszuweiten, China wirtschaftlich – beide jedoch militärisch nicht in ähnlicher Größenordnung wie die USA. Die Linke fordert eine neue Sicherheitsarchitektur und Initiativen zur Abrüstung. Als Grundlage eigne sich die OSZE, in der auch Russland, Kanada und die USA Mitglied sind. Es sei jetzt nicht an der Linken, Bekenntnisse zu Militärbündnissen zu machen, die in den letzten 20 Jahren ein „Riesendesaster“ in Afghanistan angerichtet hätten, erklärte sie auf die Frage nach Koalitionen. Sie frage umgekehrt SPD und Grüne, ob sie, wenn sie Interesse an Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit haben, „allen Ernstes“ eine Zusammenarbeit an einem Bekenntnis zur NATO scheitern lassen wollten.

Rosemann pochte darauf, dass der Mindestlohn auf 12 Euro steigen müsse, und zwar für alle Tätigkeiten – auch Jobs von Studierenden in Kneipen oder Bäckereien. Es handle sich bei ihnen keinesfalls um einen Zuverdienst, widersprach er Stegert. Sie seien vielmehr auf das Einkommen angewiesen, um ihr Studium und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Minijobs würde der promovierte Volkswirt am liebsten ganz abschaffen. Wegen der Gleitzone komme es auch Arbeitgeber billiger, für ihre Leute Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Auch der Kohleausstieg war Thema. Ihn vorzuziehen, scheitere vor allem am Mangel an Alternativen.

Annette Widmann-Mauz (CDU), 55. Bild: Ulmer

Annette Widmann-Mauz (CDU), 55. Bild: Ulmer

Chris Kühn bringt es in Rage, auf Podien immer wieder das Argument zu hören, der schleppende Ausbau der Windkraft in Baden-Württemberg liege an der Grün-geführten Regierung. In Wirklichkeit habe die Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2017 dazu geführt, dass nun zuerst die ertragreicheren Standorte in Norddeutschland zum Zug kommen. „Auf die Bundesländer zu zeigen, ist ein durchsichtiges Manöver, um von eigenem Versagen abzulenken.“ Das von der SPD auf den Weg gebrachte Klimaschutzgesetz sei „ein zahnloser Tiger“, und das „Lex Bayern“, das es den Ländern erlaube, Abstandsregeln zu erlassen, habe „die Büchse der Pandorra geöffnet“, ereiferte sich Kühn.

Vergleichsweise ruhig verlief das Gespräch mit Widmann-Mauz. Sie wies allerdings zurück, dass die CDU eher eine Regierungs- als eine Programmpartei sei. Ihr Programm sei die soziale Marktwirtschaft. Überdies sei die Partei nicht nur konservativ, sondern habe auch christliche und soziale Wurzeln. Dabei stehe „konservativ immer an der Spitze der Erneuerung“. – „Bewahren, was bewahrenswert ist“, gab Widmann-Mauz als Parole aus, sprach von „klarem Kompass“ und „klarem Werteverständnis“. Sie pries Armin Laschet ähnlich wie zuvor Kühn Annalena Baerbock. Angesichts der schwachen Umfragewerte der Union setze sie auf einen Umschwung, der sich anbahne, und die Dynamik der verbleibenden Tage bis zur Wahl.

Schließlich lud Stegert zum „Triell“ auf die Bühne, zum Dreikampf der Anwärter aufs Direktmandat. „Ich kenne die Region wie keine andere“, warb Widmann-Mauz für sich. Der Wahlkreis bestehe nicht nur aus Tübingen, man müsse die Wirtschaft und die Unternehmen stärken. Dabei seien „Verkehrsfragen ganz entscheidende Fragen“.

Martin Rosemann (SPD), 44. Bild: Ulmer

Martin Rosemann (SPD), 44. Bild: Ulmer

Als Herausforderer schaltete Chris Kühn auf Angriff: Aufgabe eines direkt gewählten Abgeordneten sei, Initiativen nach Berlin zu tragen „und auch mal gegen die eigene Partei und Fraktion für den Wahlkreis hinzustehen“ – auch gegen den Innenminister. Das vermisste Kühn bei der Flüchtlingsaufnahme und beim Klimaschutz. Es sei eine Besonderheit der Region, dass sich eine Stadt auf den Weg gemacht habe, um noch vor allen anderen klimaneutral zu werden. Auch gebe es „ein ungeheures ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge“ und mit Tübingen und Rottenburg Städte, die sich zu sicheren Häfen erklärten. Im übrigen verträten auch die Grünen den ländlichen Raum.

Ein direkt gewählter Abgeordneter müsse den Blick auf den gesamten Wahlkreis haben, forderte auch Rosemann. Er müsse gerade für die ansprechbar sein, die es schwer hätten, zu ihrem Recht zu kommen, erinnerte er an seinen Einsatz für den abgeschobenen Pakistaner Bilal Waqas aus Tübingen: „Da bin ich doch ein bisschen stolz.“ Er wolle auch weiterhin Belegschaften und Betriebsräte unterstützen, die um Arbeitsplätze kämpfen: „Wer mich wählt, kriegt keine Symbolpolitik und vielleicht nur ab und zu ein schönes Foto.“

Annette Widmann-Mauz, nun ebenfalls zunehmend emotional, hielt unter anderem mit dem Hinweis entgegen, sie habe sich für die Finanzierung der Regionalstadtbahn und die Exzellenzinstitute auf dem Schnarrenberg eingesetzt, außerdem in der Corona-Zeit für Selbstständige und Gastronomen. Rosemann wiederum reklamierte den Technologiepark als Verdienst der früheren SPD-Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer. „Ich hätte mir Ihre Stimme gewünscht“, beharrte Kühn darauf, es habe „viel Engagement ausgebremst“ , dass keine Lösung für die Flüchtlinge in den griechischen Lagern gefunden wurde. Im Gespräch zwischen Grünke und Hänsel ging es ruhiger zu, und es fanden sich sogar Gemeinsamkeiten: Beide sind für eine strikte Trennung von Staat und Kirche. Auch rechnete es Grünke Hänsel hoch an, ebenso wie Kühn für den Antrag der FDP gestimmt zu haben, das „Tübinger Modell“ aufrechtzuerhalten, das in der Zeit des Corona-Lockdowns Öffnungen mit Tests ermöglichte. Rosemann und Widmann-Mauz hätten dagegen gestimmt.

Julian Grünke (FDP), 26. Bild: Ulmer

Julian Grünke (FDP), 26. Bild: Ulmer

Dissens gab es in Grundsatzfragen. Die FDP will Steuern senken, die Linke fordert die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und höhere Steuern auf große Erbschaften und hohe Einkommen, um in die Infrastruktur zu investieren und Geringverdiener zu entlasten. Grünke setzt auf marktwirtschaftliche Instrumente („das ist viel besser als diese Verbotspolitik“), Hänsel auf sozialen Wohnungsbau und einen Mietendeckel, um die Probleme auf dem Wohnungsmarkt zu lösen: „Das Hauptproblem ist die enorme Spekulation mit Boden und dauernden Mietsteigerungen.“

Die Frage nach Koalitionspräferenzen ergab wenig Neues: CDU und FDP wollen mit allen zusammenarbeiten außer AfD und Linken – Widmann-Mauz „aus unterschiedlichen Gründen“, Grünke, weil die FDP nicht mit Parteien koaliere, „die Extremisten in ihren Reihen dulden“.

„In einer Demokratie müssen alle demokratischen Parteien miteinander gesprächsbereit sein“, schloss Rosemann eine Koalition mit der Linken nicht aus, bekannte aber, dass er persönlich „ein Ampelbündnis“ mit Grünen und FDP begrüßen würde. Kühn sah „als Bau- und Wohnbaupolitiker die größten Schnittmengen mit SPD und Linken“. Man werde jedoch mit allen sprechen und die Koalition eingehen, in der sich am meisten für den Klimaschutz herausholen lasse.

Ansonsten empfahl er in Zukunft mehr Gelassenheit in Koalitionsfragen: „Wir müssen aufhören, Dinge auszuschließen, weil wir sonst in die Falle der Rechten laufen.“ Heike Hänsel betonte, dass ihre Partei als einzige ganz bestimmt nicht die CDU an die Regierung bringen werde. Für ein Zusammengehen mit Grünen und SPD müsse „ein Politikwechsel“ Voraussetzung sein: „Ich finde abgesehen davon auch Opposition nicht Mist.“

Eine abschließende Schnell-Fragerunde ergab, dass alle fünf Kandidaten eine Verkleinerung des Bundestags befürworten. Hänsel wäre als einzige dafür, dass die Krankenkassen wieder die vollen Kosten für Brillen übernehmen. Und alle wollen das Bafög erhöhen. Zuletzt bekam jeder noch einmal 60 Sekunden Zeit, für sich zu werben. Eine Publikumsfragerunde gab es zum Bedauern einiger Zuhörerinnen und Zuhörer dieses Mal nicht. Gernot Stegert hatte vorab eingereichte Fragen in seine Moderation einbezogen.