Tübingen · Dokumentarfilm

Das Matheheft der Welt sichtbar machen

Die Regisseurin Carmen Losmann versucht, die Mechanismen der Geldwirtschaft aufzudecken.

19.10.2020

Von dhe

Carmen Losmann Bild: Neue Visionen Filmverleih

Carmen Losmann Bild: Neue Visionen Filmverleih

Für ihren Film „Oeconomia“ ging die Dokumentarfilmerin Carmen Losmann in die Glastürme der Finanzwirtschaft. Sie sprach mit Leuten, „die Geld erzeugen, Gewinne erwirtschaften, Vermögen vermehren“. Es waren ausschließlich Männer. „Es gibt nicht so viele Frauen in Spitzenpositionen“, sagte Losmann dem TAGBLATT. Christine Lagarde sei zur Drehzeit noch nicht Präsidentin der Europäischen Zentralbank gewesen. So vorhanden, hätte die Filmemacherin auch gern mit einer Chefvolkswirtin gesprochen, um etwa zu erfahren: „Wieso müssen Unternehmen eigentlich permanent Gewinne machen?“

Am Samstagnachmittag stellte die 42-Jährige ihren Film im ausverkauften Tübinger Kino Atelier vor. Etliche Interessierte konnten gar nicht eingelassen werden. Eine beobachtende Dokumentation wie ihr vielgelobter Vorgängerfilm „Work Hard Play Hard“ über die Methoden von Personalmanagern, Mitarbeitende dazu zu bringen, das Maximum aus sich herauszuholen, war diesmal nicht möglich. Losmann durfte nicht an Meetings in Banktürmen oder Konferenzräumen privater Fonds teilnehmen, sondern nur welche nachstellen. Das macht sie im Film jeweils kenntlich: „Wenn man nicht weiß, dass es nachgestellt ist, hat die Szene einen ganz anderen Effekt.“

Die Systeme und das Leben

Spätestens seit der Finanzkrise beobachte sie die Welt des Geldes „mit Faszination und Neugier“. Sie wollte versuchen, „das Matheheft der Welt sichtbar zu machen“, sagte sie. „Wir alle leben ja in diesen Kunstwelten.“ Sie ist überzeugt, „dass wir von der Ideologie und Ökonomie des Kapitalismus durchdrungen sind in unserem ganzen Leben“.

Losmann studierte zunächst Marketing in Köln, fotografierte aber schon und drehte Kurzfilme mit Freunden. Dann lernte sie die dortige Hochschule für Kunst und Medien kennen und wechselte das Fach. Kunst schien ihr damals als „Zugang zu einem unregulierten Leben“, zur Selbstverwirklichung. „Das ist natürlich Quatsch“, sagte sie im Rückblick. Einer ihrer Professoren riet ihr damals: Um Kunst zu machen, müsse sie erst einmal eine Haltung zur Welt entwickeln. Das versuchte sie dann. Nun fragt sie in ihren Filmen: „Welche Systeme umgeben uns?“

Um wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, um mehr Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen, brauchen wir mehr Geld, also mehr Schulden, sagte sie. Früher dachte sie, Banken würden die Einlagen ihrer Sparer verleihen. Bei den Recherchen für den Film lernte sie, dass Geld durch Kredite entsteht; dass 10 Prozent Realgeld 90 Prozent Buchgeld gegenüberstehen. Im Alltagsverständnis seien Schulden negativ, man wolle „nicht auf Pump leben“. Aber: „Staaten können sich nicht so leicht überschulden“ – vorausgesetzt, sie haben eine unabhängige Zentralbank und sind nicht von privaten Banken abhängig. „Die Verschuldung steigt, aber die Vermögenszuwächse auch. Die Eigentumsstrukturen sind mittlerweile sehr konzentriert. Es gibt keinen Trickle-down-Effekt, sondern einen Trickle-up-Effekt.“

Doch Losmann ist überzeugt: „Menschengemachte Systeme sind immer veränderbar.“ Soll weiter die Profitlogik dominieren oder sollte die Wirtschaft so funktionieren, „dass wir nicht unsere Lebensgrundlagen zerstören?“ Sie sagte: „Der Planet kann ohne uns leben, wir aber nicht ohne den Planeten.“ Das klingt nach Fridays for Future, doch die Filmemacherin riet den Tübinger Zuschauerinnen und Zuschauern, wieder Marx zu lesen: über den Mehrwert. Das Gespräch nach der Vorstellung moderierte Dieter Betz, Programmleiter der Tübinger Kinos Arsenal und Atelier.

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Erstellt:
19.10.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 35sec
zuletzt aktualisiert: 19.10.2020, 01:00 Uhr

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