Tübingen

Das Klima gerät außer Kontrolle

Vier „Fridays for Future“-Aktivistinnen diskutierten mit vier Politikern über Strategien gegen CO2-Emissionen in Tübingen und bundesweit.

13.08.2019

Von Volker Rekittke

Dass Tübingen bis 2030 klimaneutral werden will, wie unlängst vom Gemeinderat beschlossen, findet Adrian Lächele gut. Gemeinsam mit anderen „Fridays for Future“-Aktivist(inn)en diskutierte der 16-Jährige, der das Tübinger Kepler-Gymnasium besucht, bereits mit Ratsmitgliedern: „Es besteht viel Bereitschaft, zu handeln.“ Oberbürgermeister Boris Palmer hatte bei der Abstimmung im Gemeinderat gesagt: „Wir können das Klimaziel schaffen. Aber es erfordert Veränderungen im System.“

Kurz darauf, im Seminar an der Uni Tübingen, rechnet der Schüler Lächele den anwesenden Kommunal-, Landtags- und Bundestagspolitikern vor: Zur Erreichung des Null-Emissionsziels im Jahr 2030 muss der CO2-Ausstoß in Tübingen bis Ende 2023 gegenüber 2016 um 40 Prozent gesunken sein. Bis Ende 2026 sogar um 80 Prozent. Vor allem im Verkehrssektor müsse deshalb rasch etwas passieren. Die Regionalstadtbahn ist wichtig, keine Frage – aber was passiert in den nächsten zehn Jahren, bis sie die Region einmal verbinden soll? Wenn die Tübinger Innenstadtstrecke denn überhaupt jemals kommt.

Die Hauptfrage ist für Lächele: „Wie kriegen wir die Autos raus aus der Stadt?“ Reichlich inkonsequent finden es die Studierenden und Schüler/innen von Fridays for Future (FfF) jedenfalls, dass am Europaplatz ein Parkhaus für 80 Autos gebaut werden soll. Oder bei der Renovierung des Nonnenhaus-Parkhauses von den Stadtwerken extra breite Parkplätze eingerichtet werden, in die SUVs besser reinpassen. Lächele fragt: „Warum rollen wir auch noch den roten Teppich für Autos aus?“

Was Johanna Heck von der SMV der Tübinger Waldorfschule nicht einleuchtet: Dass der Klimawandel längst da ist, sei bekannt. Seit Jahren schon mache die Politik Vorschläge, was dagegen zu tun sei. Aber: „Warum sich immer wieder neue Klimaziele setzen, wenn man die alten noch nicht erreicht hat?“

„Die deutschen Emissionsziele für 2020 sind gerissen worden, das ist richtig“, gibt ihr der Grünen-Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal Recht. Hinzu komme: Der allergrößte Teil der CO2-Einsparungen in Deutschland seit 1990 sei die Folge des industriellen Kahlschlags in der ehemaligen DDR: „In Westdeutschland hat sich überhaupt nichts geändert.“

Die Zeit drängt. Für Lede Abal, der Inlandflüge als „totalen Unsinn“ bezeichnet, muss eine CO2-Steuer deshalb rasch kommen. Sie sollte sowohl „eine ökologische Lenkungsfunktion“ haben wie auch eine Sozialkomponente, also Reichere stärker belasten als Ärmere.

Die erste große Tübinger Fridays for Future-Demo startete am 15. März bei den Gymnasien in der Uhlandstraße. Archivbilder: Volker Rekittke

Die erste große Tübinger Fridays for Future-Demo startete am 15. März bei den Gymnasien in der Uhlandstraße. Archivbilder: Volker Rekittke

Die Soziale Frage findet auch Adrian Lächele wichtig. Für den Schüler ist sie ein Argument mehr für entschiedenes und schnelles Handeln: „Wenn wir nicht jetzt Klimaschutz machen, müssen die unteren 20 Prozent der Weltbevölkerung die Folgen ausbaden.“

Und das wortwörtlich: Küstenregionen werden überschwemmt, Ackerland versalzt. Wissenschaftler warnen: Wenn der Meeresspiegel bis 2050 lediglich um 30 bis 45 Zentimeter steigt, werden allein in Bangladesch 25 bis 30 Millionen Menschen zu Klimaflüchtlingen – und gezwungen sein, sich eine neue Heimat zu suchen. Zugleich gibt es auch in Deutschland immer neue Hitzerekorde und lange Dürren, die für Ernteausfälle sorgen und eine Belastung für Menschen, Tiere wie auch den Baumbestand sind.

Was tun? Dass in Deutschland das letzte Kohlekraftwerk spätestens 2030 abgeschaltet werden muss – und nicht 2038, wie bislang geplant – da sind sich die vier FfF-Aktivist(inn)en mit den meisten anwesenden Politikern einig. In seiner Partei würden das zwar manche anders sehen, räumt Florian Burkhardt ein. Doch immerhin seine Jusos seien für den Ausstieg bis 2030, so der Politikstudent und stellvertretende Kreisvorsitzende der SPD Tübingen. Die Regiostadtbahn müsse bald kommen, der ÖPNV in Tübingen „mittelfristig kostenlos“ werden.

Auch Die Linke will den „TüBus umsonst“, sagt die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel. Sie unterstütze zwar die Regiostadtbahn – jedoch, wegen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, nicht die Tübinger Innenstadtstrecke. Um den „climate change“, den Klimawandel, noch einigermaßen in den Griff zu bekommen, braucht es für Hänsel allerdings mehr: einen „system change“ – einen Systemwandel inklusive Vergesellschaftung der großen Stromerzeuger und Stärkung von Stadtwerken. Sie will „dezentrale Energie in Bürgerhand“, deshalb müsse die Macht der großen Energiekonzerne in Deutschland und international gebrochen werden. Die Linken-Politikerin plädiert für effektive Regulierung: „Die Zeit der Freiwilligkeit ist jetzt vorbei – bei sozialen Standards in der Produktion genauso wie beim Klimaschutz.

Der FPD-Bundestagskandidat Christopher Gohl findet: „CO2 braucht einen Preis und eine Grenze.“ Die Politik müsse festlegen, wie viel CO2 überhaupt noch ausgestoßen werden darf. „Und dann geht’s darum, dieser Menge einen Preis zu geben.“ Das ist das Modell des Emissionshandels – das allerdings schon eine Weile existiert. Bislang habe die Umwelt nichts oder zu wenig gekostet – was sich laut Gohl ändern muss. Die Bepreisung werde in der Wirtschaft Innovationskräfte freisetzen – ein Beispiel ist für ihn der E-Roller. Zudem müsse sich jeder selbst fragen, welchen Beitrag er leiste: Der ökologische Fußabdruck eines Deutschen sei so hoch, dass er die Ressourcen von 3,5 Erden verbrauche.

Die CDU-Bundestagsabgeordnete und Integrations-Staatsministerin Annette Widmann-Mauz konnte aus Termingründen nicht an der Diskussion im Seminar teilnehmen, begrüßt aber in einem Schreiben das Engagement der Schüler und Studierenden – wie auch „den einstimmigen Beschluss des Gemeinderats zur CO2-neutralen Stadt Tübingen bis 2030“. Bei den Antriebstechnologien setze die CDU nicht nur auf Elektromobilität, sondern auch auf synthetische Kraftstoffe – und bei der CO2-Bepreisung auf eine Kombination aus Emissionshandel, CO2-Steuer und Förderangeboten.

„Es ist schön, dass alle Parteien jetzt versuchen, Klimaschutzprogramme zu erarbeiten“, findet die Politikstudentin Anneke Martens. Der FfF-Aktivistin kritisiert aber: „Das geht alles einfach nicht schnell genug.“ Es stecke längst noch nicht die nötige Energie dahinter – und: „Es ist viel zu viel Zögern dabei.“ Dabei zeige das dramatisch schnelle Auftauen der arktischen Permafrostböden den Ernst der Lage: „Das ist einer der Kipppunkte – das Klimasystem gerät komplett außer Kontrolle.“ Die politischen Parteien hätten das offensichtlich „noch nicht so richtig verstanden“.