Tübingen · Paläontologie

Das Klebenswerk der Neandertaler

Was hat Birkenpech mit der mutmaßlichen geistigen Überlegenheit früher Menschenarten zu tun? Tübinger Forscher stellten die damaligen Verhältnisse nach – und gewannen neue Erkenntnisse.

22.08.2019

Von Lorenzo Zimmer

Nach dem Verbrennen von Birkenrinde ist dieser Stein mit Pech bedeckt.Bild: Claudio Tennie

Nach dem Verbrennen von Birkenrinde ist dieser Stein mit Pech bedeckt.Bild: Claudio Tennie

Für ihre Arbeit mussten sich die Tübinger Urgeschichtler Patrick Schmidt und Claudio Tennie in die Situation eines Neandertalers versetzen. Sie wollten herausfinden, wie steinzeitliche Menschenarten bereits vor rund 100000 Jahren einen Klebstoff herstellten, das sogenannte Birkenpech. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“.

Bei ihrer Arbeit experimentierten sie mit in der Steinzeit alltäglichen Materialien und fanden heraus, dass der aus Birkenrinde gewonnene, teerartige Destillationsrückstand einfacher herzustellen war als bislang gedacht. Die Forscher sammelten im Wald frisch geschnittene oder abgestorbene Birkenrinde und verbrannten sie in der Nähe flacher Flusskiesel mit glatter Oberfläche. Nach drei Stunden hatten sie bereits eine brauchbare Menge eines schwarzen, klebrigen Materials beisammen. Es ließ sich leicht von der Oberfläche der Steine abkratzen. „Dieses Birkenpech wies ähnliche molekulare Merkmale auf wie archäologische Proben, die wir von Neandertalerfundorten kennen“, so Schmidt in einer Pressemitteilung der Universität Tübingen. „Zudem klebte es sogar besser als Birkenpech, das in einem aufwendigen Prozess hergestellt wurde.“

Um die Haftfestigkeit zu prüfen, klebten die Tübinger Forscher mit dem selbstgemachten Natur-Klebstoff einen Steinkratzer an ein Rundholz und schabten mit dem so hergestellten Werkzeug die Knochenhaut vom Oberschenkelknochen eines Kalbs ab. „Die Klebewirkung ließ dabei nicht nach“, sagt der Mitautor der Studie, Matthias Blessing. Birkenpech wurde einst beispielsweise eingesetzt, um eine Art Klinge stabil an einem Schaft zu befestigen oder um Kanus und Schiffe wasserdicht zu machen.

Ein Alltagsexperiment

Bislang hatten Forscher nur mit Gruben, Lehmaufbauten, Aschehügeln sowie Gefäßen aus Keramik und Metall experimentiert. „Nur so kann man erreichen, dass die Birkenrinde unter Sauerstoffabschluss erhitzt wird“, so Schmidt. Die Birkenpech-Gewinnung und der dafür nötige, möglichst luftleeren Raum galten deshalb lange als Beweis für die in ihrer Zeit überlegenen geistigen Fähigkeiten früherer Menschenarten. Es blieb allerdings unklar, welche Hilfsmittel die Neandertaler wirklich zur Verfügung hatten und wie sie das nötige umfangreiche Wissen erworben und weitergegeben haben könnten.

Nun konnte das Forscherteam unter Leitung von Schmidt und Tennie den einfacheren Weg der Herstellung nachweisen, den frühere Menschen in ihrem Alltag gut hätten entdecken können. „Möglicherweise wurde das Wissen über die Herstellung nicht weitergegeben, sondern die Klebewirkung der Rückstände sogar mehrmals entdeckt“, mutmaßt Forscher Tennie.

Dass Birkenpech hergestellt und genutzt wurde, könne also nicht länger als Hinweis für komplexes Verhalten dienen. „Dadurch entziehen wir der in der Wissenschaft laufenden Debatte zu den geistigen Fähigkeiten der Neandertaler ein wichtiges Argument.“ Dass die Vorfahren dennoch hochentwickelt waren, müsse man nun auf andere Weise belegen, fasst Schmidt zusammen.

Erste Funde des Birkenpechs in Deutschland

Bereits in den 1960er Jahren fanden Archäologen bei einer Ausgrabung an der Königsaue in Sachsen-Anhalt zwei Pechstücke aus der mittleren Altsteinzeit. DIe umgebenden Gesteinsschichten wurden auf ein Alter von rund 80000 Jahren datiert. Der Begriff der Steinzeit ist an die Erfindung erster Steinwerkzeuge gekoppelt; sie begann vor rund 2,5 Millionen Jahren. Ab welchem Zeitpunkt und an welchen Orten das klebende und abdichtende Birkenpech regelmäßig zum Einsatz kam, ist unklar. Die Neandertaler vor rund 230000 bis 30000 Jahren könnten seinen Nutzen mehrfach unabhängig voneinander entdeckt haben.

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Erstellt:
22.08.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 37sec
zuletzt aktualisiert: 22.08.2019, 01:00 Uhr

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