Übrigens

Das Gesetz der Tübinger Straße

Weitgereiste lernen schon bei der Ankunft in Tübingen: Hier gilt das Gesetz der Straße. Man muss schnell sein, man muss stark sein und sich durchsetzen können.

03.08.2016

Von Matthias Reichert

Das fängt am Omnibusbahnhof am Europaplatz an. Fürsorglich sind an der Seite Wege für Fußgänger auf den Busbuchten gestrichelt. Aber auf denen parken immer wieder Fernbusse, einer oder zwei, kreuz oder quer, allen voran die verflixten Flix-Busse, wie sie bald im Volksmund genannt werden. Wer den Busbahnhof zu Fuß durchqueren will, muss seinen Weg anderen Bussen auf der Anfahrt abtrotzen – eines der letzten Abenteuer der Menschheit.

Auf dem Weg zur Neckarbrücke kann man dann beobachten, wie verirrte Autofahrer aus Reutlingen, Stuttgart, Balingen und manchmal auch Einheimische alle fünf Minuten verbotenerweise zum Trautwein-Eck einscheren. Hinterm Busbahnhof steht zwar ein Warnschild, das jede Woche komplizierter wird und darauf hinweist, dass hier nur Busse und Taxis durchdürfen. Aber das ist den Reutlingern, Stuttgartern und Balingern herzlich egal. Sie haben schnell gemerkt: Hier gilt das Gesetz der Straße (siehe oben).

Zwischen „Café L“ und Zinser geht der fröhliche Wildwuchs dann weiter. Hier gibt es keine direkte Fußgängerverbindung, nur die Ampel zur Karlstraße. Aber das ist den Fußgängern, die zu Zinser wollen, völlig gleichgültig. Alle zwei Minuten laufen welche quer über die Straße, zwischen Bussen und Fahrradfahrern und verirrten Autos hindurch.

Den Fahrradfahrern wiederum ist es, wie praktisch in ganz Tübingen, wurstegal, ob sie gerade grün haben oder nicht. Fahrradfahrer denken aus Prinzip, dass für sie keine Ampeln gelten – und wer will es ihnen verdenken? Sie haben ja auch keine Nummernschilder, welche die Polizei aufschreiben könnte. Wenn beispielsweise am Schimpfeck die Auto-Ampel rot zeigt, werden die Radler zu Fußgängern und haben prompt wieder grün.

Mitten auf der Neckarbrücke gibt es wie vorm Zinser keine Fußgängerampel. Aber das ist den Fußgängern wieder herzlich egal. Denn auch hier gilt das Gesetz der Straße. Die Flaneurinnen und Flaneure bahnen sich ihren Weg durch Autoschlangen und Fahrradkolonnen, schlängeln sich zwischen zwei Bussen durch und schauen dabei nicht links noch rechts. Die Alternative bestünde darin, 20 Meter weiter zur Fußgängerampel zu gehen – aber das widerspricht der Erkenntnis, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade ist.

Neulich habe ich an der Bushaltestelle auf der Neckarbrücke eine Fußgängerin gesehen. Sie entdeckte einen Bettler auf der anderen Straßenseite, zückte das Portemonnaie, sprang durch den brausenden Verkehr, warf ihm eine Münze in den Hut und spurtete zurück über die Straße. So ist Tübingen. Hier verbindet sich Herzensgüte mit Todesverachtung. Es grenzt an ein Wunder, dass nicht viel mehr Unfälle passieren.