„Eine BRD im Aufbruch“

Das Filmfestival von Locarno zeigt den Film der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1963

Von wegen Heimatfilm und Papas Kino: In seiner Retrospektive zeigt das Festival von Locarno, wie modern viele Filme der Adenauer-Ära waren.

29.07.2016

Von EPD

Das Filmfestival von Locarno zeigt den Film der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1963

Frankfurt. „Der alte Film ist tot, wir glauben an den neuen!“, verkündeten in der Oberhausener Erklärung von 1962 junge deutsche Filmregisseure. Der alte Film – das waren Heimatfilme, Schlagerfilme, eine vom Markt beherrschte Produktion, künstlerisch belanglos, antiquiert und ohne politische Perspektive. Der junge deutsche Film mit Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff, Wim Wenders oder Rainer Werner Fassbinder hat die Werke der 50er Jahre in die Bedeutungslosigkeit verdrängt. Noch immer haben Produktionen der jungen Bundesrepublik einen schlechten Ruf.

Jetzt beginnt mit einer Retrospektive beim Festival von Locarno in der Schweiz (3. bis 13. August) der bisher ambitionierteste Versuch, die deutschen Filme jener Jahre noch einmal mit neuen Augen zu sehen. Der Kurator der Schau, der Kölner Filmjournalist Olaf Möller, ist der Überzeugung, dass diese so verachteten Filme viel reicher, interessanter und moderner waren, als wir meinen.

Sie zeigen, beschreibt Möller, „eine BRD im Aufbruch“. Viele der 50er-Jahre-Filme sind Zeugnisse der Zeit. Viele zeigen aber auch, wie intensiv man sich schon damals mit der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur auseinandersetzte.

In Locarno gibt es 44 Programme aus der jungen Bundesrepublik zu sehen, außerdem zum Vergleich einige Beispiele der Ostberliner DEFA. Und das ist nur der Start eines großen Projekts. Die Filme wandern von Locarno aus weiter: zuerst zum Deutschen Filminstitut in Frankfurt, dem Mitinitiator der Retrospektive. Dann geht es nach Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Wiesbaden, nach Zürich, Lausanne und Bern, nach Triest, Turin und Lissabon und 2017 nach New York und Washington.

Das Besondere: Es gibt außer den Filmen, die in Locarno gezeigt werden, einen Pool weiterer Werke aus der frühen Bundesrepublik. Möller und sein Team haben sie in zweijähriger Arbeit zusammengesucht. Jeder kann aus dem Angebot auswählen, so dass sich ganz unterschiedliche Programme ergeben – wohl keines so umfangreich wie in Locarno.

Aber es gibt prägende Darsteller und Regisseure sowie zentrale Filme, die wohl in allen Städten zu sehen sein werden. Schauspieler wie Hildegard Knef, Mario Adorf, Bernhard Wicki, Horst Buchholz oder Karin Baal gaben ihren Filmen ein neues, lebendiges, realistisches Gesicht – weit weg von der pathetischen Ästhetik der Nazizeit. Oder Maria Schell, die oft als „Seelchen“ belächelt wurde: Sie spielt in Helmut Käutners „Die letzte Brücke“ als Partnerin von Bernhard Wicki eine Ärztin im Partisanenkrieg in Jugoslawien, intensiv und ohne jede Sentimentalität.

Unter den neuen Regisseuren fallen vor allem Georg Tressler und Bernhard Wicki auf. In Tresslers „Die Halbstarken“ von 1956 verkörpert Horst Buchholz einen jugendlichen Rebell, in „Endstation Liebe“ (1958) einen Fabrikarbeiter – beide so glaubwürdig, wie man es bis dahin kaum kannte. In Wickis Antikriegsfilm „Die Brücke“ (1959) sollen sieben Jugendliche bei Kriegsende eine Brücke sichern – aus dem Abenteuer wird die Tragödie einer zum Krieg erzogenen Generation. Der Film wurde überall verstanden, er war ein Welterfolg.

Wesentlich zur Qualität des bundesdeutschen Films trugen zurückgekehrte Emigranten bei. Robert Siodmak (1900-1973) etwa war während der Nazizeit in Frankreich und den USA, führte erst wieder in den 50er Jahren in Deutschland Regie. Er überzeugte nicht nur bei „Nachts, wenn der Teufel kam“, sondern auch mit einer Verfilmung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“.

Das Kino der 50er Jahre hat eine Generation geprägt, die versuchte, ihre Identität wieder aufzubauen – so beschreibt es Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter des Festivals von Locarno: „Ein hervorragendes Beispiel einer Kunst, die viel zu schnell abgeschrieben und als rein kommerzielles Produkt angesehen wurde“.

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Erstellt:
29.07.2016, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 48sec
zuletzt aktualisiert: 29.07.2016, 06:00 Uhr

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