Kampf um die Straße

Das Fahrrad im Verkehr des Jahres 2017

Vor 200 Jahren hat Karl Drais mit der „Laufmaschine“ in Mannheim das Fahrrad erfunden. Wie stehen das Zweirad und seine Nutzer heute im Verkehr in Baden-Württemberg da? Eine Bestandsaufnahme.

08.06.2017

Von TOBIAS KNAACK

Vorbeischlängeln, abbremsen, anfahren: Fahrrad- und Autofahrer kommen sich im Straßenverkehr häufig in die Quere. Foto: Imago

Vorbeischlängeln, abbremsen, anfahren: Fahrrad- und Autofahrer kommen sich im Straßenverkehr häufig in die Quere. Foto: Imago

Ulm. Und plötzlich Stillstand. Fahrrad steht, Auto steht – und beide stehen sich gegenüber. Highnoon spätnachmittags mitten in Stuttgart. Eigentlich fehlen nur noch Colts. Rad- und Autofahrer sehen sich an, dann umkurvt der Radler den silbernen Pkw. Die Eberhardstraße, eine Fahrradstraße im Herzen der Landeshauptstadt, Radler sollten hier bevorzugt fahren können. Alleine, es gelingt nur leidlich. Wie hier beim Abbiegen auf den Radweg entlang der B 14 oder beim schlichten Befahren der Fahrradstraße, immer wieder gibt es Konflikte. Hier steht ein Lieferwagen, dort ein hastig geparkter Pkw. Vorbeischlängeln, abbremsen, anfahren, immer wieder. Verkehrsfluss geht anders. Es ist eine kurze Szene, doch sie zeigt: Stuttgart ist eine autogerechte Stadt.

Jan Lutz fährt seit 2009 mit dem Rad von Esslingen zu Arbeit in der Stuttgarter Innenstadt, je nach Weg 17 bis 20 Kilometer pro Strecke. Die sei oft beschwerlich und mitunter gefährlich, sagt er – auf Kreuzungen, die vor allem für den Autoverkehr organisiert sind. Oder auf Radwegen, die zwischen Straßen und Parkplätzen gezwängt sind.

Bei weniger als 4,6 Prozent liegt der Anteil des Radverkehrs laut Statistischem Landesamt in der Stadt, der des Autos hingegen bei 45 Prozent. Die Stadt selbst rechnet mit knapp sechs Prozent. So oder so steht Stuttgart aber auf einem Niveau mit Gemeinden von weniger als 5000 Einwohnern, die den geringsten Anteil an Radpendlern im Land haben.

Das ist aus Sicht von Jan Lutz in der Kessel-Stadt aber nicht nur topographisch zu erklären – zumal es mit Pedelecs und E-Bikes mittlerweile Technologien gibt, um die Berge zu überwinden. Es sei eine Frage „des politischen und gesellschaftlichen Willens“. Jeden ersten Freitag im Monat organisieren er und ein paar Mitstreiter deswegen eine Critical Mass: An diesem Abend stehen auf einer vorher mit der Polizei abgestimmten Route die Straßen den Radlern zur Verfügung. Die Autos müssen warten.

Gegen die Stigmatisierung

Es ist wieder „Critical Mass“, die Sonne scheint: Knapp 1000 Menschen rollen auf ihren Rädern auf den Straßen der Landeshauptstadt, von Feuersee geht es zum Nordbahnhof. Manche haben Musik dabei, einer hat sein Rad zu einem Flugzeug umgestaltet, an den Tragflächen blinken Lichter. Man müsse das Radfahren über Events positiv besetzen, sagt Lutz. „Wir müssen aus der Stigmatisierung raus.“ Denn so fühle er sich, wenn er im normalen Verkehr mit dem Rad durch die Stadt fahre: Als einer, der den Verkehr stört, als Aufrührer und Unruhestifter.

Im Land hat der Radverkehr laut Statistikamt einen Anteil von 7,5 Prozent. Das Auto liegt bei 64 Prozent. Vergangenes Jahr hat das Land eine Strategie für die Radverkehrsförderung bis 2025 beschlossen, insgesamt mehr als 200 Maßnahmen. Ziel ist es, den Radverkehrsanteil bis 2020 auf 16 Prozent aller Wege zu verdoppeln und ihn bis 2030 auf 20 Prozent zu steigern. Dafür nehme man in diesem Jahr 40 Millionen Euro in die Hand, heißt es aus dem Verkehrsministerium. Wie hoch der Betrag in den zurückliegenden Jahren war oder in den kommenden Jahren sein wird, konnte leider nicht mitgeteilt werden.

Zum Vergleich: Bayern hat in seinem im März vorgestellten Radverkehrsprogramm angekündigt, bis 2025 insgesamt 400 Millionen Euro vor allem in den Radwegebau entlang von Bundes- und Staatsstraßen zu investieren. Und einen 20-Prozent-Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr will man bereits 2025 erreichen.

„Radverkehrsförderung benötigt Ausdauer“, sagt ein Sprecher des Verkehrsministeriums in Stuttgart. Da das Land „vergleichsweise spät eingestiegen ist, besteht zurzeit noch Nachholbedarf.“ Das sieht man auch beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Stuttgart so. Landesgeschäftsführerin Kathleen Lumma lobt zwar, dass mit den verabschiedeten Maßnahmen „eine sehr gute Grundlage“ geschaffen wurde, um den Radverkehr im Land zu stärken. Allerdings: „Die Stärkung des Radverkehrs bedarf nicht nur der Initiative eines Ministeriums, sondern einer Vielzahl von Akteuren.“ So habe etwa das Wirtschaftsministerium „das Rad noch nicht für sich entdeckt, obwohl in der Nutzung des Fahrrads im Wirtschafts- und Berufsverkehr große Potenziale stecken“.

Potenziale und Gefahren

Potenziale ja, aber auch Gefahren – so lautet die Einschätzung vom Allgemeinen Deutschen Automobil Club (ADAC). Pressesprecher Reimund Elbe fordert eine klare Priorisierung, „um zunächst Gefahrenstellen zu entschärfen“, bevor man Radwege ausbaut. „Das Schlimmste wäre ein Gießkannen-Prinzip“, also überall ein bisschen zu fördern – auch wenn es „unglaublich viele Aufgaben“ gebe.

Dass eine deutliche Steigerung des Radverkehrs möglich ist, zeigt die Stadt Karlsruhe. Bereits 2005 hat sie sich mit einem 20-Punkte-Programm auf den Weg gemacht, um zur „Fahrrad-Großstadt Nummer 1 in Süddeutschland“ zu werden. So hat sie etwa das Umland über mehr und bessere Radwege sukzessive an die Stadt angebunden. Das Resultat: Von 16 Prozent 2005 ist der Radverkehrsanteil auf 25 Prozent im Jahr 2012 gestiegen. Auch wenn er keine aktuelle Erhebung hat, nimmt Ulrich Wagner an, dass der Wert „heute nochmal deutlich höher liegt“. Wagner ist Bereichsleiter Verkehr im Stadtplanungsamt in Karlsruhe.

Entscheidend sei politische Legitimation, sagt er. Der Gemeinderat votierte damals einstimmig für den Plan. Elementarer Bestandteil ist es, „bei jeder Baumaßnahme den Radverkehr mitzudenken“. Wichtig sei Öffentlichkeitsarbeit: Über die Jahre habe sich in der Stadt so eine Radkultur entwickelt, sagt Wagner. Er fasst das so zusammen: „Es gibt eine Eigendynamik, es ist aber kein Selbstläufer.“

Stuttgart erhöht den Etat

200 Jahre nach der Erfindung des Fahrrads durch Karl Drais in Mannheim glaubt Jan Lutz, dass der Weg zu einer richtigen Radkultur im Land noch weit ist. Dabei sei das Radfahren ein in die Zukunft weisendes Verkehrsmittel – in ökologischer und gesundheitlicher Hinsicht, aber auch, weil es auf Strecken bis fünf Kilometer oft am schnellsten ist. Ob Stuttgart je die von Oberbürgermeister Fritz Kuhn proklamierte „Fahrradstadt“ wird mit den avisierten 20 Prozent Radanteil am Verkehr, bleibt abzuwarten. Immerhin: Der jährlichen Etat für den Radverkehr wurde von 0,8 Millionen Euro 2006 auf 5,8 Millionen angehoben und das Radwegenetz von 68 Kilometern 1990 auf 180 Kilometer ausgebaut.

Jan Lutz zufolge aber geht es um ein generelles Umdenken: In Städten wie Münster, Kopenhagen oder Amsterdam macht er Radverkehr teilweise mehr als 30 Prozent aus. In Kopenhagen auch deshalb, weil man Parkflächen für Autos abgebaut hat. Lutz wird da lakonisch: „Das Problem ist, Kopenhagen hat das in 40 Jahren geschafft. Diese Zeit haben wir nicht mehr.“

Jan Lutz kämpft für mehr Radverkehr in Stuttgart. Foto: privat

Jan Lutz kämpft für mehr Radverkehr in Stuttgart. Foto: privat

Zahlen zum Fahrrad

2 Fahrräder gibt es nach Angaben des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberg im Durchschnitt in jedem Haushalt, insgesamt 10,4 Millionen. 460 000 davon sind Elektrofahrräder.

4,6 Prozent macht das Rad in Stuttgart an den von Berufspendlern genutzten Verkehrsmitteln aus. Damit liegt die Landeshauptstadt auf einem Niveau mit Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern, die mit 4,5 Prozent den geringsten Anteil an Radpendlern haben. Auf Landesebene liegt der Wert bei 7,5 Prozent. Zum Vergleich: Das Auto liegt in dieser Statistik bei 64 Prozent.

500 Millionen Euro haben die Händler in Baden-Württemberg im Jahr 2015 mit dem Verkauf von Fahrrädern, Fahrradteilen und dem entsprechenden Zubehör umgesetzt. Daten des Statistischen Landesamtes zufolge gab es 1000 Einzelhändler, bei denen rund 2700 sozialversicherungspflichtige Angestellte arbeiteten.

8440 Fahrradfahrer verunglückten 2015 im Straßenverkehr, 42 von ihnen tödlich. Die zunehmende Nutzung von Elektrofahrrädern – Pedelecs und E-Bikes – spiegelt sich auch bei Unfällen wider. Lag die Zahl der verunglückten Pedelec-Nutzer 2015 bei 629, lag sie allein in den Monaten Januar bis November 2016 bei 744 Personen. Entsprechend der geringeren Verbreitung von E-Bikes fiel die Zahl der Verunglückten mit 37 Personen im Jahr 2015 und 40 von Januar bis November 2016 niedriger aus.?tk

Zum Dossier: 200 Jahre Fahrrad

Zum Artikel

Erstellt:
08.06.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 53sec
zuletzt aktualisiert: 08.06.2017, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!