Die Leere führt zur Erleuchtung

Das Buddhistische Zentrum Reutlingen lehrt die spirituelle Entwicklung des Geistes

Die Gedanken einfach mal loslassen, die Probleme und Schwierigkeiten des Alltags vergessen. Im Buddhistischen Zentrum in der Albstraße wird der Weg zur Erleuchtung gelehrt. In der gemeinsamen Meditation soll Glück als dauerhafter Zustand erreicht werden.

16.09.2016

Von Maik Wilke

Die Meditation soll den Geist leeren, störende Gedanken werden verbannt. Stephan Böhme (Mitte) führt durch die einzelnen Phasen. Bild: Haas

Die Meditation soll den Geist leeren, störende Gedanken werden verbannt. Stephan Böhme (Mitte) führt durch die einzelnen Phasen. Bild: Haas

Reutlingen. Von Geburt an hat jedes fühlende Lebewesen den Urzustand der Erleuchtung. Doch Stress, Trauer, Zorn, selbst Begierde – all das beeinflusst den menschlichen Geist und verhindert dauerhaftes Glück. Beim Diamantweg des Buddhismus, erklärt Stephan Böhme, geht es deshalb nicht darum, etwas hinzuzufügen, sondern Störgefühle abzulegen. „Schleier verblenden unsere Sicht. Der Buddhismus und die Meditation helfen uns, diese Schleier nach und nach abzulegen.“

Der 54-jährige Böhme ist seit der Gründung des Buddhistischen Diamantweg-Zentrums Reutlingen vor 27 Jahren dabei, hat die Räume in der Albstraße damals mit umgestaltet. Der Gompa, der Meditationsraum ist schlicht und in warmen Farben eingerichtet: Auf dem großen weißen Teppich steht ein kleiner Tisch, auf den das Lehrbuch, „16. Karmapa Meditation“, gelegt wird. Neben den sanft-roten Gardinen hängen Bilder vom 16. und 17. Karmapa, dem Schirmherr des Diamantwegs, sowie von Lama Ole Nydahl, dem Lehrer und Gründer der Karma Kagyü Linie. Auf dem kleinen Pult sind goldene Buddhas im Schneidersitz platziert. Doch mit Götzenanbetung oder Verehrung eines gottähnlichen Menschen, Lama Ole Nydahl, habe der Buddhismus nichts zu tun, betont Böhme: „Es geht nicht darum, ihm zu huldigen oder ähnliches. Man versucht lediglich, seine Energie und seine Lehren für sich mitzutragen und in der Meditation umzusetzen.“

Zurecht werde der Buddhismus daher oft als Erfahrungs- und nicht als Glaubensreligion bezeichnet, erklärt Böhme. Es geht immer um eine persönliche Entwicklung. Zweimal wöchentlich meditieren die „Freunde auf dem Weg“, wie sich die 55 Mitglieder des Reutlinger Zentrums untereinander nennen, gemeinsam.

Das Ziel ist die Erleuchtung – die Befreiung des Geistes. Für Anfänger kann das Loslassen der Gedanken aber extrem schwer sein. „Wenn ich in der Meditation denke: ‚Ich darf an nichts denken‘, dann habe ich ja bereits gedacht. Dann kommt man in eine Spirale“, erklärt Manfred Rabb, der seit 23 Jahren meditiert. Nichts zu denken, muss geübt werden. Umso früher der Moment des Einhakens in einen Gedanken erkannt wird, desto eher könne man auch wieder loslassen. „Viele merken aber erst bei der Ruhe, wie verworren und umtriebig der eigene Geist ist“, sagt Böhme. „Doch schon den eigenen Geist zu erleben, ist ein wichtiger Prozess.“ Denn auf dem Ziel zur Erleuchtung muss der Geist zunächst befreit werden. Dabei hilft die geführte Meditation: Ein Mitglied liest in sanfter Tonlage aus einem kleinen Lehrbuch, die Laute „Ohm, Ah und Hum“ sowie das Mantra Karmapa Chenno werden gemeinsam gesprochen.

Die über die Meditation gelehrte Ruhe und Ausgeglichenheit sowie das Wissen über den Buddhismus, das über Vorträge vermittelt wird, sollen in den Alltag einfließen. Nichtigkeiten sollen als eben solche, also als belanglos, wahrgenommen werden. Eine unfreundliche Kassiererin an der Supermarkt-Kasse oder ein Drängler im Autoverkehr können die „Freunde auf dem Weg“ nicht mehr so schnell aufregen. „Man darf nicht alles auf sich persönlich beziehen“, sagt Annette Rückel. „Es geht darum einen Abstand zu den Geschehnissen zu nehmen.“ Wo früher nur eine Möglichkeit zur Reaktion war, gebe es für Buddhisten mehrere Lösungen.

Kann man die Reutlinger Buddhisten also gar nicht mehr auf die Palme bringen? „Doch klar“, sagt Franz Schickinger, seit zehn Jahren Buddhist. „Aber wir steigen nicht so tief in den Zorn ein, sondern können früher loslassen.“ Ruhe und Kontrolle über den Geist darf aber nicht als undifferenziertes Gutmenschentum oder gar Blauäugigkeit verstanden werden. „Es ist ein handlungsfähiges Mitgefühl“, beschreibt Rückel. Diskussionen und Streitereien gibt’s im Berufsleben der Buddhisten ja dennoch – und da sagen sie auch klar ihre Meinung. „Es geht nicht darum, eine rosarote Brille aufzuziehen“, sagt Böhme. Der kritische Geist muss bewahrt, die eigene Meinung jedoch vorurteilsfrei dem Gegenüber klar gemacht werden.

Der Grundgedanke: Jedes Wesen macht im Grunde alles, um glücklich zu sein. Selbst schlimme Menschen suchen so ihr persönliches Glück. Boshaftigkeiten würden durch Unwissenheit der Verursacher entstehen, diese müssen dann zurechtgewiesen werden. Ein Glaube ans Schicksal gibt’s im Buddhismus nicht. Das Karma wird geprägt von Ursache und Wirkung. „Wenn ich meinen Hintern in Kakteen setze, habe ich die genauso gesät wie Blumen“, zitiert Böhme ein Mantra von Lama Ole Nydahl.

Böhme selbst habe durch den Buddhismus zu mehr Glück gefunden. Prozentual sei er bei etwa 80 Prozent angekommen. Doch wie wissen die Frauen und Männer des Diamantwegs überhaupt, wann sie zu 100 Prozent erleuchtet sind? Und was passiert, sobald das Ziel Erleuchtung erreicht ist? „Klar ist: Wenn man selbst noch Zweifel hat, dann ist man nicht so weit“, sagt Schickinger. Und hat man sich vom eigenen Geist vollends befreit und die spirituelle Entwicklung abgeschlossen, dann soll das Wissen weitergegeben werden. Rückel erklärt: „Der Buddhismus unserer Linie achtet darauf, dass die Lehren zum Wohle aller fühlenden Wesen führt.“ Wie der große Lehrer Nydahl, in dessen Namen das Reutlinger Zentrum lehrt, soll der Überschuss an positive Energie auch andere Menschen und Lebewesen in einen Glückszustand versetzen.

Zu glauben, die Reutlinger Buddhisten sind alle völlig ruhig, gar verkrampft und spießig, irrt gewaltig. Positive Emotionen dürfen und werden auch rausgelassen. Den Titel bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 haben die „Freunde auf dem Weg“ gemeinsam im Zentrum gefeiert. Und auch sonst werden hier nicht nur Däumchen gedreht – der Kühlschrank ist voll mit Bier und Sekt, sagt Schickinger: „Wir sind mehr die Begierdetypen, die auch Spaß haben.“

Reutlingen, Buddhistisches Zentrum. Bild: Haas

Reutlingen, Buddhistisches Zentrum. Bild: Haas

600 Zentren des Diamantwegs weltweit

In der Religion des Buddhismus gibt es viele Wege zur Erleuchtung. Das Reutlinger Zentrum gehört dem Diamantweg, dem Vajrayana, an. Daneben gibt es noch den kleinen Weg, Hinayana, sowie den großen Weg, Mahayana. Die Wege unterscheiden sich vereinfacht ausgedrückt, erklärt Stephan Böhme vom Reutlinger Zentrum, in der Gewichtung von drei Säulen: Der Meditation, der intellektuellen Lehre und der Übertragung auf den Alltag. „Alle Säulen sind wichtig, die Meditation steht bei uns aber im Vordergrund“, sagt Böhme. Die 55 Mitglieder des Zentrums treffen sich immer dienstags und donnerstags um 20.15 Uhr zur gemeinsamen Meditation. Das Zentrum folgt der Lehre von Lama Ole Nydahl (Dänemark), der die Karma Kagyü Linie 1989 gegründet hat. Mittlerweile gibt es mehr als 600 Zentren weltweit. Der Buddhismus ist eine über 2600 Jahre alte Lehrtradition, die zu den großen Weltreligionen gezählt wird. Am Samstag, 17. September, spricht Gabi Wohlfahrtstätter-Volenko, eine langjährige Schülerin von Ole Nydahl, auf Einladung des Buddhistischen Zentrums Schwäbische Alb um 15 und 20 Uhr im Wasserweg 4, St. Johann-Würtingen.