Das Alter ist kein Kriterium

UKT-Chef Michael Bamberg über Corona und das Ende des Shutdowns

Was geschieht, wenn in Tübingen die Beatmungsplätze knapp werden? Wir sprachen mit Michael Bamberg über Corona und das Ende des Shutdowns.

28.03.2020

Von Ulrich Janßen

Prof. Michael Bamberg. Bild: Universitätsklinikum Tübingen

Prof. Michael Bamberg. Bild: Universitätsklinikum Tübingen

Auswählen zu müssen, welcher Patient beatmet wird und welcher nicht, zählt wohl zu den schlimmsten Situationen, in die Ärzte geraten können. Sowas passiert normalerweise nur im Krieg, doch auch in Bergamo oder Straßburg standen Ärzte jetzt vor dieser Frage. Anders konnten sie die Zahl der Corona-Infizierten nicht bewältigen.

Kann es auch in Tübingen zu einer „Triage“ kommen, wie das Auswählen in der Militärmedizin genannt wird? Immerhin zählt Tübingen mittlerweile zu den Landkreisen mit der höchsten Dichte an Infizierten in Deutschland. Prof. Michael Bamberg sieht momentan keinerlei Anzeichen, dass der erwartete Ansturm von Patienten nicht bewältigt werden könnte. Das Klinikum habe sich gründlich vorbereitet, sagte er, und verfüge über eine große Menge an Beatmungsplätzen: „Dass wir da absaufen, das glaube ich nicht.“

Der Klinikums-Chef ist in diesen Tagen an vielen Fronten gefragt. Er muss nicht nur das eigene Haus vorbereiten, sondern auch dafür sorgen, dass alles, was die Ärzte brauchen, vorhanden ist. Nebenbei hält er noch die Öffentlichkeit auf dem Laufenden. Wir sprachen mit dem Ärztlichen Direktor des UKT über folgende Themen:

Triage: Selbst wenn die Ressourcen tatsächlich irgendwann nicht mehr reichen sollten, werde das Alter nicht das Kriterium für die Auswahl sein, versprach der Radiologe, der selbst in diesem Jahr 73 Jahre alt wird. Den Ausschlag gäben in so einem Fall die Vorerkrankungen, der augenblickliche Zustand des Patienten und eine Prognose über die Heilungschancen. Zudem würde niemals ein einzelner Arzt eine solche Entscheidung treffen: „Da gilt immer das Sechsaugen-Prinzip.“

Beatmung: 110 Beatmungsplätzen bietet das Klinikum derzeit, die im Notfall um 30 weitere von der benachbarten Berufsgenossenschaftlichen Klinik ergänzt werden können. Noch sind davon etliche frei. Allerdings stieg die Zahl der Patienten mit Coronavirus schon gestern im Verlauf des Tages deutlich an. Am späten Nachmittag waren auf der Intensivstation 20 Beatmungsplätze mit Covid-Kranken belegt, weitere 20 Patienten lagen auf der Infektionsstation. Die Grippe ist zwar kein Problem mehr, doch wurden wegen anderer Erkrankungen auch noch weitere 16 Patienten beatmet. Ausdrücklich lobte Bamberg das „Superteam“ der Intensivmedizin: „Die Geräte dort kann man mit Formel-1-Rennwagen vergleichen. Damit muss man umgehen können.“

Tests: Um Testkits kümmert sich in Tübingen der Chef persönlich. 10 Packungen a 96 Kits trieb er bei einer Hamburger Firma auf: „Damit kommen wir die nächsten Tage über die Runden.“ Derzeit nimmt das UKT um die 270 Tests pro Tag vor, die ausschließlich in eigenen Labors ausgewertet werden. Labors aus den Tübinger Naturwissenschaften können dem Klinikum leider nicht helfen. Diese Labors erfüllen nicht die speziellen medizinischen Anforderungen.

Schutz: Händeringend gesucht werden derzeit in ganz Deutschland Schutzanzüge und Atemmasken. Das Tübinger Klinikum hat laut Bamberg genügend Schutzanzüge und auch Maskennachschub bekommen. Aktuell verfüge man über 86 000 Masken der unteren Schutzstufe FFP 1, die allerdings noch mit dem DRK und dem Paul-Lechler-Krankenhaus geteilt werden müssen: „Das reicht für einen Monat.“ Pro Schicht werde eine Maske verwendet. Zusätzlich stünden „genügend“ Masken mit den höheren Schutzstufen FFP 2 und FFP 3 zur Verfügung. Sie werden etwa bei Operationen eingesetzt. An Angeboten für weitere Masken fehlt es nicht, doch werden dafür astronomische Summen verlangt (1,70 Euro pro Maske). Das lehnt das Klinikum ab: „Die Anbieter wollen Vorauskasse und bestellen die Masken dann in China.“ Immerhin laufe die Produktion in China wieder an, täglich landeten mittlerweile Frachtflugzeuge in Berlin, um die Republik zu versorgen. Persönlich bemühte sich Bamberg sogar im Ministerium um zusätzliche Landerechte für die Flieger. Der Engpass an Masken ist deshalb, so Bambergs Hoffnung, in einigen Wochen vorbei.

Am Eingang zum Tübinger Klinikum wachen neuerdings Security-Leute: Ohne Desinfektion kommt niemand mehr rein. Bild: Klaus Franke

Am Eingang zum Tübinger Klinikum wachen neuerdings Security-Leute: Ohne Desinfektion kommt niemand mehr rein. Bild: Klaus Franke

Ausweichkliniken: Nachdem die Kassen die geforderte Bezahlung zugesichert haben, kann das UKT im Fall des Falles Tübinger Patienten in den Rehakliniken in Bad Urach und Bad Sebastiansweiler unterbringen. Die Häuser haben Hunderte Betten frei. In der Regel handelt es sich um Patienten ohne Covid, theoretisch sei es aber auch möglich, weniger stark betroffene Corona-Patienten zu verlegen.

Security: Krankenbesuche sind derzeit nur in Ausnahmefällen gestattet. Um zu verhindern, dass größere Gruppen sich trotzdem drängelnd Einlass verschaffen, hat Bamberg eigens ein Security-Team engagiert. Die Sicherheitsleute sollen auch darüber wachen, dass alle, die das Haus betreten, ihre Hände desinfizieren. Zusätzlich werden alle Besucher in Zukunft mit Infrarot-Fieberthermometern gescannt.

Aufnahme: Patienten mit Covid-Verdacht dürfen das Crona-Gebäude nicht über den Haupteingang betreten. Sie werden zu einem separaten Eingang umgeleitet. Dort wird in einem abgetrennten Bereich ein Abstrich genommen. Fünf Stunden müssen die Patienten dann auf das Ergebnis warten. Das können sie in der Wartezone direkt hinter der Aufnahme machen oder daheim. „Die meisten“, sagte Bamberg, „fahren nach Hause und kommen nach fünf Stunden wieder.“

Forschung: Mit gleich zwei Studien will das UKT herausfinden, ob das alte Malaria-Medikament Chloroquin auch bei Covid hilft. Bei der ersten Studie werden jeweils 110 stationär aufgenommene Patienten mit Chloroquin oder einem Placebo versorgt. In der zweiten Studie wird die Wirkung des Malaria-Mittels bei Patienten mit geringerer Viruslast untersucht. Sie erhalten das Chloroquin direkt bei der Fieberambulanz auf dem Festplatz. In Zusammenarbeit mit Notärztin Lisa Federle wird später daheim die Wirkung kontrolliert.

Risikogebiet: Warum ausgerechnet der Landkreis Tübingen eine der höchsten Infektionsraten in Deutschland hat, darüber kann Bamberg nur spekulieren. Es könne an den vielen und frühen Tests liegen, überlegt er, aber auch an der Mobilität der Studierenden. Bamberg vermutet, dass zahlreiche junge Leute sich schon infiziert haben könnten, ohne es überhaupt zu wissen und das Virus unbemerkt weitergaben.

Neue Virusvariante: Bamberg bestätigte, dass die Mediziner mittlerweile von zwei unterschiedlichen Varianten des Coronavirus ausgehen, einer aggressiveren L- und einer sanfteren S-Variante. Die L-Variante habe sich möglicherweise schon im Herbst 2019 unter chinesischen Arbeitern in italienischen Tuchfabriken verbreitet. Wie es bei den unterschiedlichen Varianten mit der Todesrate und der Immunität aussieht, ist noch nicht bekannt.

Alter: Im UKT liegen derzeit Patienten zwischen 27 und 89 Jahren. Die meisten Betroffenen seien aber „deutlich über 60 Jahre alt.“ Alle jüngeren Patienten hätten zudem eine Vorerkrankung von Herz oder Lunge.

Sport: Dass sehr viel Sport die Anfälligkeit für Covid erhöhen könnte, wurde nach der Erkrankung eines 38-jährigen italienischen Fitnesstrainers diskutiert. Bamberg sieht keine Gefahr. Sport stärke den Körper: „Lüften Sie Ihre Lunge ruhig ordentlich aus!“

Sonne: Die Hoffnung, im Sommer könnte Covid so wie die Grippe an Heftigkeit verlieren, haben sich bislang nicht bestätigt. Auch in Afrika breitet sich die Seuche mittlerweile aus. Laut Bamberg gehen die Mediziner aber davon aus, dass UV-Strahlen zumindest im Freien das Virus zerstören können.

Infektionswege: Ganz ausschließen wollen die Mediziner nicht, dass man sich beim Berühren von Gegenständen das Virus einfängt. Allerdings sei es sehr unwahrscheinlich, dass man sich etwa beim PIN-Eingeben im Supermarkt infiziert. Das größte Risiko bilde weiterhin die Tröpfchen-Infektion, weshalb auch Schutzmasken hilfreich seien. „Bald werden alle mit solchen Masken herumlaufen“, vermutet Bamberg.

Zurück in den Alltag? Michael Bamberg über die Zeit nach dem Shutdown

Wie geht es nach den Osterferien weiter? Diese Frage wird in Deutschland derzeit heftig diskutiert. Michael Bamberg plädiert für eine vorsichtige Rückkehr in die Normalität. „Man muss sich irgendwann wieder dem täglichen Leben widmen und die Beschränkungen lockern“, findet er. Allerdings sollten die Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen noch weitere 14 Tage in Quarantäne bleiben. „Die Jüngeren merken wenig von der Infektion. Die bleiben 14 Tage daheim und sind dann immun.“ Michael Bamberg geht davon aus, dass man Ende der nächsten Woche merken wird, ob die Zahl der Infektionen sinkt oder „ob da noch eine weitere Bugwelle anrollt“. Der Shutdown ist nach Bambergs Ansicht sinnvoll, aber müsse auch irgendwann enden. Auch die Schüler sollten so bald wie möglich wieder in die Schulen zurückkehren. „Auf der ganzen Welt ist meines Wissens kein Kind an Covid gestorben.“ Allerdings sollten sie weiterhin den Kontakt zu den Großeltern meiden. Generell sei es geboten, in Zukunft gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, so etwa das Tragen von Schutzmasken in größeren Gruppen.