Tübingen · Journalismus

Damit Fakten eine gemeinsame Grundlage bilden

Gernot Stegert zur Kampagne „Journalismus zeigt Gesicht“.

06.11.2019

Von Gernot Stegert

Damit Fakten eine gemeinsame Grundlage bilden

Donald Trump und Boris Johnson leben auch in Tübingen. Sie heißen hier anders, gehören zu Teilen der linken und der grünen Basis. Wirklichkeitsverweigerer wie sie posten auf Facebook und schreiben auf Handzetteln Halbwahrheiten oder ganz Falsches, neudeutsch Fake News. Etwa zum Cyber Valley, Tierschutz oder Europaplatz in Tübingen. Unterschiedliche Meinungen, Kritik, auch Warnungen vor Gefahren müssen sein. Nicht aber das Verdrehen von Tatsachen und Schrauben an Verschwörungstheorien.

Journalisten halten dagegen, vor allem mit Informationen. Haltung – für viele ist es ein Schimpfwort geworden. Sie verstehen darunter Moralisieren, bloßes Gemeine, Besserwisserei. Gewiss, auch wir sind, auch ich bin der Gefahr zum erhobenen Zeigefinger schon erlegen. Aber journalistische Haltung meint: auf Fakten und Argumente setzen. Und eine Grundhaltung jenseits parteipolitischer Farben haben, aus der heraus auch Kommentare verfasst werden: der Aufklärung, der Humanität, der gelebten Demokratie.

Zugegeben, das klingt sehr nach Festrede, bei der alle gelangweilt mit dem Kopf (weg)nicken. Aber ausbuchstabiert im Alltag erregt es oft Widerstand. Beim Oberbürgermeister, der zu Alleingängen neigt; bei Presseabteilungen, die ein X für ein U vormachen wollen; bei Paragrafenreitern, die Menschen als Fälle behandeln; bei Unternehmen, die ihre Kunden hinters Licht führen; bei Anliegern eines Bauvorhabens, die ihr Eigeninteresse als Gemeinwohl ausgeben; bei heiß Diskutierenden, die selbst Zahlen anschreien ...

Wir leben in einer Gesellschaft der oft nur noch gefühlten Wahrheiten, des Aufgeheizten und Gereizten sowie der sich zersplitternden und isolierenden Gruppen. Schlechte Zeiten für Journalismus? Nein, im Gegenteil. Die beste Zeit ist jetzt. Die professionelle Recherche und Darstellung von Fakten und Argumenten ist nötiger denn je. Deshalb haben sich alle Zeitungen in Baden-Württemberg zusammengetan und starten heute die Kampagne „Journalismus zeigt Gesicht“. Es geht um den Wert unserer Arbeit für die Allgemeinheit, für das Miteinander und jeden einzelnen vor Ort. Und weil sich das hochtrabend anhört, will ich bei der Kritik an uns anknüpfen:

„Das ist Zensur. Ich kann doch im Leserbrief schreiben, was ich will.“ Nein, Zeitungen haften auch für falsche Tatsachenbehauptungen in Leserbriefen.

„Das stimmt doch gar nicht!“ Ja, wir machen Fehler, wie jeder Mensch, in jedem Beruf. Sie ärgern uns selbst am meisten. Aber Fehler sind keine Lügen, wie Pseudokritiker mit den Ausdrücken „Fake News“ und „Lügenpresse“ unterstellen. Wir veröffentlichen bei Falschem umgehend eine Berichtigung. Wir lassen uns am Maßstab des Nachprüfbaren messen. Im Lokaljournalismus, sagt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, wäre ein Relotius-Skandal wie beim „Spiegel“ nicht möglich gewesen. Die Erfindungen des Reporter-Schriftstellers wären schnell aufgeflogen, weil Gesprächspartner gegen die ihnen in den Mund gelegten Zitate sofort protestiert hätten. Wir begegnen unseren Leserinnen und Lesern täglich auf dem Boden der Tatsachen. Sie stellen Dinge klar, sagen ihre Meinung, schimpfen und bedanken sich. Sie melden sich telefonisch oder per Mail, wir treffen sie auf der Straße und im Supermarkt. Auch so zeigen wir Gesicht.

„Journalisten müssen objektiv sein.“ Vollkommene Objektivität ist grundsätzlich nicht möglich. Aber das Objektivieren als Arbeitsweise gehört zu unserem Alltag. Wir checken Fakten, hören unterschiedliche Parteien an und trennen Bericht und Kommentar.

„Sie haben unsere Veranstaltung nicht angekündigt. Haben Sie was gegen uns?“ Die Kritik belegt: Tageszeitungen bieten weiterhin Service, der nicht ersetzbar ist.

Was wäre die Region ohne ihre Lokalzeitung? Auch Facebookprofile mit vielen Abonnenten decken nur Spezialinteressen ab und sind parteiisch. Im Lokalen bieten Zeitungen zudem sehr viele Nachrichten weiterhin exklusiv. Und wir geben nicht auf, für alle Menschen etwas zu bringen. Wer lässt Sport-, Kultur- oder Politikinteressierte, Junge und Alte beim Durchblättern über den Tellerrand schauen? Wer ist die gemeinsame Plattform segmentierter Teilöffentlichkeiten? Schließlich: Ohne Lokalzeitung blieben nur Pressestellen, Parteien und Einzelpersonen übrig. Wer informiert dann ohne PR-Interessen? Wer checkt Gerüchte? Wer hakt kritisch nach? Wer schaut den Mächtigen auf die Finger?

Antworten geben ab heute in den nächsten Wochen auch einige Dutzend Persönlichkeiten aus der Region, die wir gefragt haben, warum sie das TAGBLATT lesen.

www.journalismus-zeigt-gesicht.de/