Skisport

„Dagegen ist Epo-Doping Kindergeburtstag“

Was sich wie eine interne Fachdiskussion anhört, birgt enorme Sprengkraft: Das Verbot von fluoridhaltigem Wachs bremst die Sportler ein. Kritiker wie Charly Waibel befürchten, dass mit der schnellen Entscheidung dem Betrug Tür und Tor geöffnet wird.

02.12.2020

Von UTE GALLBRONNER

Im Weltcup kümmern sich zahlreiche Techniker darum, dass die Ski zu den Bedingungen passen. Foto: Schueler / Eibner-Pressefoto

Im Weltcup kümmern sich zahlreiche Techniker darum, dass die Ski zu den Bedingungen passen. Foto: Schueler / Eibner-Pressefoto

Ulm. Corona-Krise, Doping-Skandale, kein Schnee mehr – der Skisport hat wahrlich Probleme genug. Doch unter der Oberfläche brodelt noch etwas: Das Verbot von Fluorwachs. „Dagegen ist Epo-Doping Kindergeburtstag“, sagt Charly Waibel. Der frühere Cheftrainer der Alpinen ist beim Deutschen Ski-Verband fürs Material zuständig.

Fluorwachs spielt in allen alpinen und nordischen Disziplinen eine große Rolle, besonders aber beim Freistil-Langlauf. Seit 1989 holten nur noch Sportler WM-Medaillen, die Fluorwachs auf dem Ski hatten. Aus gutem Grund, denn bestimmte Fluor-Kohlenstoffverbindungen verhindern, dass sich der Ski ansaugt. Sie machen den Belag wasserabweisend – ähnlich wie die Teflon-Beschichtung in der Pfanne das Ankleben des Spiegeleis verhindert.

Vor allem wenn es relativ warm ist, der Schnee nass und dreckig wird, erhöht Fluorwachs die Gleitfähigkeit des Skis. „Wir reden nicht von Sekunden, sondern von Minuten“, sagt Waibel: „Da geht es nicht darum, ob man Erster oder Zweiter wird, sondern ob man an der Spitze oder am Ende landet.“

Die Fluor-Verbindungen haben aber ein Problem: Sie werden nicht abgebaut. Deshalb hat die Europäischen Union zum Juli 2020 bestimmte langkettige Fluor-Verbindungen verboten. Die Krux für den Sport: Das Verbot gilt zwar in der EU, in Russland zum Beispiel nicht. Dort darf das Wachs weiter produziert und benutzt werden.

Norwegen als Vorreiter

Besonders in Skandinavien kochte die Volksseele. Hinzu kam, dass 2015 eine norwegische Ski-Technikerin an Nierenkrebs erkrankte. Sie führte das auf die Arbeit mit fluorhaltigem Wachs zurück. Ausgeschlossen ist das nicht. Um zu verhindern, dass kleinste Partikel in die Atemwege gelangen, sind Atemmasken längst Standard.

Die Norweger führten daraufhin eine fluorfreie Rennserie im Nachwuchs ein. Am 23. November 2019 folgte die Entscheidung des Internationalen Ski-Verbandes (FIS): Fluorwachs wurde zum Saisonstart 2020/21 verboten. Das Pikante daran: Im FIS-Council sitzt Martti Uusitalo, Vorstand der finnischen Wachsfirma Vauthi – die vier Tage später ein neues fluoridfreies Wachs präsentierte. Der Zeitpunkt sei reiner Zufall gewesen, man habe erfahren, dass Konkurrent Swix an diesem Tag auch herauskommen wolle, wo wiederum FIS-Langlaufboss Vegard Ulvang im Aufsichtsrat sitzt.

Die Begründung der FIS und der Internationalen Biathlon Union (IBU), die kurz darauf nachzog: Das Verbot sei gut für die Umwelt, schütze die Techniker und außerdem werde alles billiger, die Leistung finanzstarker und -schwacher Sportler vergleichbarer. „Das klingt alles gut“, sagt Waibel und schickt ein „aber“ hinterher.

„Wenn ich auf die Warnhinweise der alternativen Stoffe schaue, sind es eher mehr als weniger“, sagt der 54-Jährige. Klar ist, dass es bisher kein gleichwertiges Wachs ohne Fluor gibt. Dagegen vermelden mehrere Hersteller, mit nach wie vor erlaubten, kurzkettigen Fluor-Verbindungen fast an die alte Leistung heranzukommen. Viele werben damit offensiv um den ambitionierten Hobbysportler, verbunden mit dem Hinweis: Die FIS macht keine Gesetze, das Wachs sei völlig legal.

Mit dem kompletten Fluor-Verbot wollte die FIS die Kontrolle ermöglichen. Beim norwegischen Nachwuchs wurden mit Klebestreifen Wachsproben der Ski genommen, nach Deutschland geschickt und am Fraunhofer-Institut untersucht. Dort heißt es, der Nachweis sei absolut sicher und deutlich abgrenzbar, ob nur Spuren von Fluorid drauf seien – etwa von alten Bürsten – oder Fluor gezielt aufgebracht wurde.

Unabhängig von dieser Frage sagt Waibel: „Das ist im großen Stil nicht praktikabel.“ Stichproben zu machen und Athleten Tage später zu disqualifizieren – auch für FIS und IBU undenkbar. Deshalb sollte ein Testgerät entwickelt werden. Der Auftrag ging an die Firma Kompass in Ilmenau. 10?000 Euro soll ein Gerät kosten. „Allein der DSV bräuchte 15 bis 20“, sagt Waibel.

Denn das Reglement ist klar: Fällt der Test positiv aus, darf der Athlet nicht starten. Deshalb werden die Serviceteams vorher selbst kontrollieren, brauchen also eigene Geräte. Dazu hat jeder Veranstalter mindestens eins. „Und nach dem Test muss sichergestellt sein, dass niemand mehr an die Ski kommt“, sagt Waibel.

Wissen geht verloren

„Alles, was unsere Techniker über Jahre an Erfahrung gesammelt haben, ist nichts mehr wert“, erklärt Waibel. Das optimale Zusammenspiel von Schliff, Struktur und Wachs bei den unterschiedlichsten Bedingungen und Strecken, das ist eine Wissenschaft für sich. Jeder Techniker hat seine Geheimnisse. Das alles muss neu aufgebaut werden.

Ohne Fluor-Wachs werden Schliff und Struktur wichtiger. Der Sportler braucht noch mehr verschiedene Ski, um mithalten zu können. Es wird teurer. Im Nachwuchsbereich wird der Geldbeutel der Eltern eine wichtigere Rolle spielen. Und: Wenn der ehrgeizige Papi sein Fluorpulver beim Nachwuchs-Rennen auf den Ski des Juniors streut, hat der freie Bahn. „Wir erziehen den Nachwuchs geradezu zum Bescheißen“, fürchtet Waibel.

Sein Fazit: „Die fluorfreien Wachs-Alternativen sind ähnlich giftig für die Umwelt, ähnlich gefährlich für die Menschen, die es verarbeiten. Sie haben null Performance und es erfordert einen immensen Aufwand, um es auch nur annähernd zu kontrollieren.“ Das übereilte Verbot habe eine neue Baustelle geschaffen: „Technologie-Doping braucht unser Sport nun wirklich nicht.“

Kurz vor Saisonstart wurde das Verbot ausgesetzt und um ein Jahr verschoben.

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Erstellt:
02.12.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 31sec
zuletzt aktualisiert: 02.12.2020, 06:00 Uhr

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