Gäste der Woche · Rangman Goelz und Karen Kreutzer

„Da taucht man voll ein in das Szenario“

An einem Neugeborenen kann man das Intubieren nicht üben: Warum Rangman Goelz und Karen Kreutzer von der Neonatologie der Tübinger Kinderklinik sich einen Frühchen-Simulator wünschen.

17.12.2016

Von Ulrich Janßen

WoGa Rangmar Goelz und Karen Kreutzer, Weihnachtsspendenaktion15.12.16 Bild: Metz

WoGa Rangmar Goelz und Karen Kreutzer, Weihnachtsspendenaktion 15.12.16 Bild: Metz

Es ist unglaublich, was Mediziner heute hinkriegen: Gerade einmal 320 Gramm wog das Kind, das vor kurzem in Tübingen geboren wurde. „Es war 25 Wochen alt, nicht mehr als eine Handvoll Leben“, sagt unser Wochengast Rangmar Goelz, der stellvertretende Ärztliche Direktor der Tübinger Neonatologie. Doch die Ärzte haben es geschafft: Sie konnten das Kind retten, entließen es 18 Wochen später mit 2400 Gramm Gewicht. So wie es aussieht, wird es später einmal ein ziemlich normales Leben führen können.

Ganz genau allerdings weiß man das nicht: „Dass Kinder mit 300 Gramm überleben, ist noch nicht so lange her, da gibt es noch keine Langzeitprognosen.“ Ganz bewusst will Goelz deshalb mit solchen „Erfolgen“ auch gar nicht angeben. „Wir streben das nicht an“, versichert er. Und: „Es ist nicht unser Wille, wenn wir das machen.“ Goelz verschweigt den Eltern auch nie, dass die Risiken sehr groß sind, wenn eine Schwangerschaft so früh beendet wird. „Wir sind da sehr ehrlich.“

Doch wenn die Eltern das Kind unbedingt wollen, weil sie vielleicht schon eine oder mehrere Fehlgeburten verkraften mussten, wenn sie die Risiken kennen und inkauf nehmen, dann sind Goelz und seine Abteilung auch bereit, alles zu tun, um das Häuflein Leben zu retten.

Und es ist nicht wenig, was die Ärzte heute tun können. „Seit den Achtziger Jahren haben wir in der Neonatologie eine Revolution erlebt.“ In den Siebziger Jahren, als Goelz studierte, war die Säuglingssterblichkeit in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hoch. „Wir lagen da im unteren Drittel.“ Dass sich das geändert hat, lag auch an einem Tübinger.

Prof. Helmuth Mentzel, damals Leiter der Neonatologie in Tübingen, hatte erstmals mit Daten des Statistischen Landesamtes belegt, dass Neugeborene vor allem in kleinen Geburtseinheiten auf dem Land sterben, in denen vergleichsweise wenige Kinder zur Welt kommen. Mentzels Erkenntnisse führten dazu, dass zum einen die Versorgung auf dem Land verbessert wurde, und dass zum anderen aber auch, durchaus auf Kosten der kleineren Häuser, die großen Kliniken ausgebaut wurden. Denn: „Man braucht einfach Erfahrung und präsentes Personal.“

In einer Klinik wie in Tübingen, wo pro Jahr mehr als 3000 Kinder zur Welt kommen, viele davon potenzielle Notfälle, sind die Chancen von Frühgeborenen groß. Denn hier ist bei Komplikationen sofort ein Experte zur Stelle. Die Neonatologie ist auf der gleichen Ebene angesiedelt wie der Kreißsaal und „wenn ich über das Notfalltelefon alarmiert werde, weil es einen Notfall gibt, renne ich los.“ Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Denn Geschwindigkeit ist alles bei einer komplizierten Geburt. „Wenn ein Kind keine Luft kriegt oder die Blutversorgung stockt, haben sie drei Minuten“, sagt Goelz.

In diesen drei Minuten muss die Lage analysiert werden, es muss eine Sonde in die Atemröhre eingeführt, richtig beatmet, dann ein Infusionskatheter gelegt und der Stoffwechserl überwacht werden. Das alles gut koordiniert im Team, bei einem winzig kleinen Kind, alles idealerweise ohne Hektik, aber trotzdem in großem Stress, mit viel Adrenalin im Blut und mit bis zum Hals klopfendem Herz.

Ohne Übung geht das nicht. Früher haben die Mediziner das Handwerk gelernt, indem sie zuschauten, wie der erfahrene Kollege vorging. „Denn üben können sie ja bei einem winzigen Frühgeborenen nicht“, sagt Karen Kreutzer. Welche Mutter stellt schon ihr Neugeborenes für solche Notfall-Trainings von Medizinern zur Verfügung.

Doch bei Kindern, deren Blutgefäße gerade einmal den Bruchteil eines Millimeters groß sind, kommt der Anschauungsunterricht an seine Grenzen. Die Anforderungen an das handwerkliche Geschick der Ärzte sind einfach zu groß.

Die Lösung heißt „Paulchen“, sieht aus wie ein 1000-Gramm-Frühchen, fühlt sich an wie ein 1000-Gramm-Frühchen und bewegt sich sogar wie ein 1000-Gramm-Frühchen. Mit dem computergesteuerten Frühchen-Simulator können angehende Mediziner und Pflegekräfte Extremsituationen lebensnah und ohne Gefahr für menschliches Leben üben. „Das ist ganz ähnlich wie bei Piloten, die auch im Simulator schwierige Situationen trainieren“, sagt Karen Kreutzer.

Die Oberärztin leitet die PädSimNeo-Gruppe der Kinderklinik. Sie möchte, dass jeder Mitarbeiter einmal im Jahr an Paulchen eine komplizierte Notfallsituation trainiert. Es kommt vor, dass beim ersten Einsatz am Simulator nicht alle begeistert sind. „Eine Puppe? Was soll denn das?“ Diese Frage kam schon vor.

Doch wer einmal einen Notfall mit Paulchen trainierte, sieht die Sache anders. „Da taucht man voll ein in das Szenario“, sagt Kreutzer, „und vergisst völlig, dass es sich um eine Puppe handelt, die über Kabel, oder im Fall von Paulchen drahtlos, gesteuert wird.“ Wenn Paulchen keine Luft mehr bekommt oder sich sein Gesicht verfärbt, sieht das so realistisch aus, dass die Ärzte und Pfleger promptt in sehr realistischen Stress geraten.

Am Bildschirm kann Kreutzer steuern, welche Komplikation bei Paulchen auftritt. Und sie bekommt genau mit, welche Fehler gemacht werden. Das ist für die Einsätze im wirklichen Leben extrem hilfreich. „Was man in den Simulationen lernt, kann man im Notfall wieder abrufen“, ist Kreutzer sicher. Was in den ersten Minuten des Lebens passiert, weiß Goelz, kann das ganze Leben bestimmen. Jeder Fehler kann schreckliche Folgen haben. Er ist deshalb sehr dankbar, dass die Stiftung „Hilfe für kranke Kinder“ mit dem Frühchen-Simulator in die TAGBLATT-Spendenaktion aufgenommen wurde. „Das hilft uns sehr.“

Auch wenn die ersten Minuten die wichtigsten sind: Über das Wohl und Wehe des Kindes entscheiden auch die weiteren Wochen. Ein Frühchen mit 300 Gramm hat ein völlig unreifes Gehirn: „Die Gehirnoberfläche ist vollkommen glatt.“ Das Gehirnwachstum aber ist entscheidend für das spätere Leben. Auch hier haben die Mediziner in den letzten Jahrzehnten viel gelernt. Etwa über die Ernährung. „Früher haben wir gedacht, wir dürfen ganz am Anfang kein Eiweiß geben, weil das zu mehr Harnstoff im Blut führt.“ Eine Fehleinschätzung. Heute weiß man, dass Kinder sehr viel Eiweiß benötigen und der viele Harnstoff ein Warnzeichen für den Eiweißmangel war. Noch immer sind die Wissenschaftler aber nicht sicher, welche Nährlösung optimal ist für ein Frühchen, wie groß etwa der Fettanteil sein muss und was das richtige Fett ist, damit das Gehirn gut wächst. Doch man kommt der idealen Zusammensetzung immer näher.

Auch die Technik hat große Fortschritte gemacht. Heutige Beamtwungsgeräte sind in der Lage, die Luft- und Sauerstoffzufuhr so fein zu dosieren, dass es dem Kind nicht schadet. Und die Brutkästen können präzise auf die für das Gedeihen der Frühgeborenen optimale Temperatur und Luftfeuchtigkeit eingestellt werden.

Doch um ein Frühchen wachsen zu lassen, braucht es nicht nur Technik. „Känguruhen“ nennen es die Ärzte, wenn das Kind auf der Brust der Mutter oder des Vaters lruht. Diese Ruhephasen sind enorm wichtig, betonen Goelz und Kreutzer. „Man kann heute nachweisen, dass es sowohl dem Kind wie auch den Eltern extrem gut tut“, sagt Goelz. Außerdem ist das erste Känguruhen, wenn das eigene Kind zum ersten Mal auf der Brust liegt, eine einzigartige Erfahrung. „Das ist ein Erlebnis“, sagt Goelz, „das vergessen Eltern ihr ganzes Leben lang nicht.“

Karen Kreutzer, Kinderärztin

1979 geboren in Filderstadt

1999 Abitur am Bildungszentrum Nord in Reutlingen

1999-2006 Studium der Humanmedizin in Tübingen

seit 2007 Universitätskinderklinik Tübingen

2014 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin

seit 2016 Oberärztin in der Abteilung Neonatologie

Rangmar Goelz, Kinderarzt

1954 geboren in Kirchheim/Teck

1973 Abitur in Kirchheim/Teck

1975-1981 Studium der Humanmedizin in Giessen und Heidelberg

1982-1987 Kinderkrankenhaus Aalen

1987 Universitätskinderklinik Tübingen, Neonatologie und Neuropädiatrie

1988 Oberarzt und 1994 leitender Oberarzt der Abteilung Neonatologie

2001 Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Neonatologie

Weihnachtsspendenaktion

Spenden können Sie in diesem Jahr für den Frühchen-Simulator oder die Vorsorge-Beratung des Betreuungsvereins im Kreis Tübingen. Unsere Spendenkonten:KSK Tübingen (IBAN: DE94 6415 0020 0000 1711 11 ) oder Volksbank (IBAN:DE916419011001 71111001). Bitte vermerken Sie, ob Sie eine Spendenquittung benötigen, anonym bleiben möchten oder nur ein bestimmtes Projekt unterstützen wollen.

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Erstellt:
17.12.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 59sec
zuletzt aktualisiert: 17.12.2016, 01:00 Uhr

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