Interview

Landkreistagpräsident: „Da kann sich das Land nicht drücken“

Der Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg, Joachim Walter, über die Lehren aus der Pandemie und die Notwendigkeiten im Kampf gegen den Klimawandel.

17.09.2021

Von Roland Muschel

„Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologen und Soziologen hören“, sagt Landkreistags-Präsident Joachim Walter. Foto: Landratsamt Tübingen

„Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologen und Soziologen hören“, sagt Landkreistags-Präsident Joachim Walter. Foto: Landratsamt Tübingen

Als Tübinger Landrat erlebt Joachim Walter vor Ort die Folgen der Pandemie: auf Berufsschulen, Gesundheitsämter, Kreis-Finanzen. Als Präsident des Landkreistags kämpft er für kommunale Belange. Ein Gespräch über Präsenzunterricht, Inobhutnahmen und finanzielle Kraftakte.

Das Land will den Präsenzunterricht aufrechterhalten. Kritiker sagen: auf Kosten der Sicherheit. Wie sehen Sie die Debatte?

Joachim Walter: Wir wissen inzwischen ziemlich gesichert, dass Verläufe und Folgen von Corona-Infektionen bei Kindern und Jugendlichen relativ glimpflich ausfallen. Dagegen sind die Folgen von Schulschließungen für ihren weiteren Bildungsweg und für ihr Sozialleben teils dramatisch. Ich unterstütze daher den mutigen Schritt von Kultusministerin Theresa Schopper, die strikten Quarantäneregeln zu lockern. Es bringt nichts, Präsenzunterricht anzukündigen, wenn aufgrund strikter Regelungen die Schulen trotzdem leer sind. Das führt dann zu anderen Problemen.

Was meinen Sie konkret?

Wir haben in Tübingen eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, die seit Corona total überbelegt ist. Da sieht man, zu welchen immensen Schäden Kita- und Schulschließungen geführt haben. Da kann man sich fragen, ob bei Kindern und Jugendlichen Corona-Erkrankungen oder nicht eher psychische Folgeschäden das größere Problem sind.

Was berichten Jugendämter?

Wir haben im Kreis Tübingen an einzelnen Tagen bis zu fünf Inobhutnahmen von Minderjährigen, weil sie in ihrem familiären Umfeld gefährdet sind. Wir müssen daher stärker überlegen, wie wir mit dem Virus leben können.

Die ewige Pandemie, ist das die Perspektive?

Dazu wissen wir zu wenig. Aber wir leben in einer globalen Welt, wir können das Virus nicht aussperren. Selbst wenn eines Tages 100 Prozent der Deutschen geimpft sein sollten, werden nie 100 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sein. Und wir wissen inzwischen, dass auch Geimpfte infiziert werden und das Virus weitertragen können. Wir werden also mit dem Virus leben müssen.

Was folgt daraus?

Wir müssen unser Gesundheitssystem stärken. Wir sollten in notwendige Dinge investieren, nicht in unnötige.

Was halten Sie für unnötig?

Zum Beispiel den mit der Pandemie begründeten Einsatz zusätzlicher Schulbusse. Im Klassenzimmer sitzen die Schüler zusammen, in den Bussen sollen sie sich verteilen: Was geben wir damit denn für ein Signal?

Wie kann man Impfskeptiker jetzt noch erreichen?

Wir versuchen die Leute, die keinen Hausarzt haben, weiter mit Impfbussen und mobilen Teams zu erreichen. Das ist gut und richtig. Aber ich glaube auch, dass wir viele noch Unentschlossene erreichen können, wenn wir bei Beratung und Impfen jetzt wieder auf die Regelversorgung setzen. Die Hausärzte genießen das Vertrauen ihrer Patienten. Mit einem indirekten Impfzwang, wie wir ihn immer mehr haben, erzeugen wir eher Gegendruck und Abwehr. Wir müssen damit rechnen, dass wir die Impfung regelmäßig auffrischen müssen. Dafür braucht es Menschen, die auch in Zukunft vom gesundheitlichen Nutzen der Impfung überzeugt sind und sich nicht nur deshalb impfen lassen, weil sie damit mehr Freiheiten haben

Das Land hat entschieden, Ungeimpften im Quarantänefall keine Entschädigung mehr für den Verdienstausfall zu zahlen. Halten Sie das auch für kontraproduktiv?

Diese Entscheidung sehe ich kritisch. Ich habe die Sorge, dass sich die Leute dann aus finanziellen Gründen bei Symptomen nicht testen lassen. Wir dürfen bei Maßnahmen nicht nur auf die Virologen hören. Wir müssen, stärker als bisher, auch auf Psychologen und Soziologen hören. Sonst erzeugen wir mit bestimmten Ge- und Verboten nur Ausweichreaktionen. Wir leben nun mal nicht mehr in einem Polizei- und Ordnungsstaat wilhelminischer Prägung, wo die Leute jeder Aufforderung sofort Folge geleistet haben. Unser prioritäres Mittel sollte die Überzeugungsarbeit sein.

Sie wollen eine Stärkung des Gesundheitssystems. Was muss das Land im Haushalt 2022 dafür tun?

Das Land muss die Investitionsmittel für Krankenhäuser aufstocken. Rein rechnerisch müsste die Pauschalförderung von bislang 160 Millionen Euro auf 210 Millionen Euro pro Jahr erhöht werden und die Einzelförderung von 260 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro. Wenn die Kliniken nicht ausreichend investieren können, dann belastet dies nicht nur den Krankenhausbetrieb. Es fehlen dann auch die Mittel, um die Häuser weiter zu digitalisieren und dauerhaft pandemiefest zu machen.

Der rote Faden im Koalitionsvertrag der Landesregierung ist der Kampf gegen den Klimawandel. Den Kommunen ist in der Umsetzung eine zentrale Rolle zugedacht.

Auch wir sehen die Notwendigkeiten und bringen uns da gerne ein. Aber dafür muss das Land die erforderlichen Gelder bereitstellen. Der Klimawandel lässt sich nicht zum Nulltarif stoppen. Wenn das Land die Kommunen nicht finanziell in die Lage versetzt, die im Koalitionsvertrag ausgerufenen Ziele umzusetzen, werden das Lippenbekenntnisse bleiben. Dabei drängt die Zeit.

Immerhin will die Koalition den Kommunen mit dem Mobilitätspass eine Möglichkeit zur Finanzierung des ÖPNV-Ausbaus schaffen.

Das ist eine rote Linie, da gehen wir nicht mit. Der Mobilitätspass, der nichts anderes als eine umgetaufte Nahverkehrsabgabe ist, kann nicht das zentrale Instrument sein, um den vom Land geplanten Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs zu finanzieren. Die neue Taktung ist das vom Land vorgegebene Grundangebot, daher muss es auch aus dem Landeshaushalt finanziert werden. Da geht es um bis zu 800 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr. Das ist ein Kraftakt, da kann sich das Land nicht drücken.

Welche Baustellen gibt es bei den Gesprächen mit dem Land noch?

Die Finanzierung der Schulbegleiter für Kinder mit Behinderungen und die Riesenlücke beim kommunalen Finanzausgleich treiben uns besonders um.

Ist nicht längst geregelt, dass das Land die Kosten für die Schulbegleiter übernimmt?

Ja, es gibt teilweise Regelungen, aber in der Praxis legen die Landkreise jährlich rund 74 Millionen Euro drauf. Das können wir nicht länger akzeptieren. Eigentlich kann Inklusion nur funktionieren, wenn sie aus der Schule heraus erfolgt. Solange es zu wenige Sonderpädagogen gibt, will ich den Einsatz externer Schulbegleiter aber nicht grundsätzlich in Frage stellen. Nur: Das Land muss uns das auskömmlich finanzieren.

Was ist mit dem Loch beim kommunalen Finanzausgleich?

Nach jetzigem Stand liegen die erwarteten Zahlungen aus dem kommunalen Finanzausgleich rund 475 Millionen Euro unter den vor der Pandemie gemachten Prognosen. Das ist eine Riesensumme, auf die Mittel sind nicht zuletzt die finanzschwachen Kommunen angewiesen. Wenn sie nicht mehr investieren können, hat das Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, aber auch auf die notwendigen Weichenstellungen für den Klimaschutz. Wir brauchen daher einen Ausgleich des Landes.

Sprachrohr der 35 Landkreise

Joachim Walter, 60, ist seit 2003 Landrat des Landkreises Tübingen. Seit 2013 steht er als Präsident im Ehrenamt auch dem Landkreistag Baden-Württemberg vor. Er ist zudem Vize-Präsident des Deutschen Landkreistages. Der Jurist hat in Freiburg studiert und seine Verwaltungskarriere beim Landratsamt des Zollernalbkreises gestartet. Walter ist Mitglied der CDU, verheiratet und Vater von vier Kindern.

Der Landkreistag Baden-Württemberg vertritt die Interessen der 35 Landkreise und ist, neben Städtetag und Gemeindetag, einer der drei gewichtigen Kommunalverbände.