Befähigung

„Da ist mehr möglich“

Bildung muss Kinder sozial Abgehängter erreichen, fordert der ehemalige Generalsekretär der Caritas, Georg Cremer.

21.09.2021

Von GUIDO BOHSEM

Das Jobcenter ist für Langzeitarbeitslose zuständig und entscheidet über Hartz IV. Ein Umbau der Sozialleistungen wird von vielen Parteien angestrebt. Foto: Jan Woitas/dpa

Das Jobcenter ist für Langzeitarbeitslose zuständig und entscheidet über Hartz IV. Ein Umbau der Sozialleistungen wird von vielen Parteien angestrebt. Foto: Jan Woitas/dpa

Berlin. Der Ex-Generalsekretär der Caritas, Georg Cremer, will das Sozialystem entwickeln. Er fordert bessere Zugänge.

Im Wahlkampf wird nicht viel über soziale Ungleichheit und Benachteiligung diskutiert.

Georg Cremer: Natürlich dominieren im Bundestagswahlkampf Themen der Mitte und in der sozialpolitischen Debatte dominiert eigentlich immer der Aspekt der Umverteilung.

Wenn man Ihr neues Buch „Sozial ist, was stark macht“ liest, würden Sie aber etwas anders empfehlen...

Ich bin in keiner Weise gegen einen umverteilenden Sozialstaat. Wir haben eine Marktwirtschaft und diese Marktwirtschaft erzeugt Ungleichheit und damit diese Ungleichheit nicht zu groß wird, brauchen wir ein System der Umverteilung. Geld allein aber kann Gerechtigkeit nicht erzwingen.

Was hilft stattdessen?

Ich setze auf einen Befähigungsansatz. Was also ist erforderlich, damit alle Menschen ihre Potenziale entfalten können und Handlungsoptionen für ein gelingendes Leben entwickeln? Wenn wir dem Zufall der Geburt entgegenwirken wollen, dann kann das eben nicht alleine mit Umverteilung geschehen, sondern dazu braucht es ein besser verzahntes Bildungs- und Sozialsystem.

Sie berufen sich auf ein Konzept des Nobelpreisträgers Amartya Sen...

Der Befähigungsansatz ist überwiegend für Entwicklungsländer genutzt worden. Aber er kann auch in Deutschland produktiv genutzt werden, den Diskurs über soziale Gerechtigkeit zu erweitern. Es geht nicht allein um Chancengerechtigkeit. In einem engen Verständnis bedeutet das ja letztlich nur, dass der Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten oder Jobs nach Leistung erfolgt. Die Frage ist aber, wie Menschen überhaupt in die Lage kommen, etwas leisten zu können. Tut das Sozial- und Bildungssystem das Mögliche, dass auch Kinder aus armen und benachteiligten Familien ihre Fähigkeiten entfalten können? Der internationale Vergleich zeigt: Da ist mehr möglich.

Was passiert bei den Schulen?

Keine Partei kann es sich leisten, das Gymnasium anzutasten. Man könnte aber die nicht-gymnasialen Schulformen deutlich besser ausstatten: mit Personal, mit mehr Förderunterricht, Unterricht in Kleingruppen, einer engeren Verzahnung mit der Sozialarbeit, kleinere Klassen. Dann würde die nicht-gymnasiale Schulform attraktiv, vielleicht sogar für Eltern aus dem bildungsbürgerlichen Milieu. Das setzt natürlich voraus, dass die bürgerliche Mitte akzeptiert, dass Kinder aus benachteiligten Milieus mehr Ressourcen erhalten als ihre eigenen Kinder.

Wie sollen Menschen sich im Sozialsystem zurechtfinden?

Der Sozialstaat ist komplex, vielfältige Zuständigkeiten erschweren die Orientierung. Es gibt Kooperationsblockaden. Sie abzubauen, wäre eine dringende Reformaufgabe nach der Bundestagswahl. Guido Bohsem

Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär der Caritas, schlägt vor, die sozial abgehängten Menschen besser zu befähigen. Foto: Anke Jacob

Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär der Caritas, schlägt vor, die sozial abgehängten Menschen besser zu befähigen. Foto: Anke Jacob