Kreis Tübingen · Antifaschismus

Verband der Nazi-Opfer: Gemeinnützigkeit entzogen

Der Verband der Nazi-Opfer bekam die Gemeinnützigkeit entzogen. Dagegen gibt es Protest – auch in Tübingen.

19.12.2019

Von ran

Gräberfeld X. Bild: Ulrich Metz

Gräberfeld X. Bild: Ulrich Metz

In einem Offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz fordern eine lange Reihe von Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern aus der Region, die Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten VVN-BdA zu erhalten. „Gerade in Zeiten von zunehmendem Rassismus und Rechtsentwicklung ist die antifaschistische Arbeit der VVN-BdA beim gemeinsamen Wirken aller Demokraten gegen Rechts unverzichtbar“, schreiben sie und verweisen auf die Frage Esther Bejaranos, der 95-jährigen Auschwitz-Überlebenden und Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA: „Was kann gemeinnütziger sein als Antifaschismus?“

Die Berliner Finanzbehörde hatte dem Bundesverband der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit entzogen, weil er im bayerischen Verfassungsschutzbericht – und zwar nur dort – als „linksextremistisch beeinflusst“ genannt wird. Darin sieht die VVN-BdA, der fünfstellige Steuernachzahlungen drohen, schon „für sich genommen“ einen Skandal. Bundesweit seien in den letzten Tagen mehr als 1000 Menschen aus Solidarität eingetreten.

„Auch in unserer Region wurde die VVN als Organisation und Interessenvertretung der Verfolgten des Naziregimes 1947 gegründet, und zwar in Tübingen“, heißt es in dem Schreiben an Scholz. Man kenne und schätze die VVN-BdA „als Organisatorin von Bildungsveranstaltungen zur Geschichte von Verfolgung und Widerstand und zu Fragen des Rechtsextremismus und der Rechtsentwicklung heute, als Veranstalterin von Bildungsfahrten zu Gedenkstätten, als diejenige Organisation, die die Erinnerung an die Verfolgten des Naziregimes und an diejenigen, die gegen den deutschen Faschismus Widerstand leisteten, wachhält. So wäre das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof, das die sterblichen Überreste von Hunderten von Naziopfern beherbergt, ohne das Engagement der VVN-BdA wahrscheinlich längst in Vergessenheit geraten – genauso wie der Mössinger Generalstreik.“

Die Liste der Tübinger Unterzeichner reicht von den früheren und aktuellen SPD-Kreisrätinnen Erika Braungart-Friedrichs und Uta Schwarz-Österreicher über die Abgeordneten der Grünen und Linken oder Gewerkschaftsvertreter bis zu 28 alten und neuen Mitgliedern der evangelischen Landessynode und zu den Kultur- und Literaturwissenschaftlern Prof. Bernd Jürgen Warneken und Prof. Jürgen Wertheimer.

Der Brief im Wortlaut:

„Was kann gemeinnütziger sein als Antifaschismus?“

Sehr geehrter Herr Minister Scholz,

diese Frage Esther Bejaranos, der 95-jährigen Auschwitz-Überlebenden und Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA, stellen auch wir uns – und unsere Antwort ist eindeutig.

Worum geht es? Das Berliner Finanzamt erkennt die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) nicht mehr als gemeinnützig an. Folge: Die in Berlin ansässige VVN-Bundesgeschäftsstelle soll einen fünfstelligen Eurobetrag an Steuern nachentrichten. Das kann sie nicht; die VVN-BdA würde durch die Zahlung ruiniert. Das Berliner Finanzamt verweist als Begründung lediglich auf den bayerischem Verfassungsschutzbericht, in dem die VVN-BdA als „linksextremistisch beeinflusst“ genannt wird. Deshalb sieht Thomas Willms, Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA, formaljuristisch gute Chancen im Streit mit dem Finanzamt – auch wenn die Behauptung aus Bayern für sich genommen ebenfalls ein Skandal ist.

Das Formaljuristische ist allerdings nicht unsere Sache. Uns empört die Einstellung, die aus dem Bescheid des Berliner Finanzamts spricht. Nicht nur Esther Bejarano empfindet die aktuelle Rechtsentwicklung als bedrohlich. In Teilen Deutschlands erhält die AfD ein Viertel der Wählerstimmen oder sogar mehr. In Parlamenten wird offen rassistisch gehetzt. Wer eine dunkle Hautfarbe hat oder eine Kippa trägt, kann sich vielerorts nicht mehr sicher fühlen. Neonazis erstellen Todeslisten. Der Anschlag auf die Synagoge von Halle ist nur der traurige Höhepunkt der gegenwärtigen Rechtsentwicklung. Wir meinen: Es ist Bürgerpflicht, sich der Rechtsentwicklung entgegenzustellen, politisch, kulturell und im Alltag. Und das zu tun, ist – gemeinnützig!

Auch in unserer Region wurde die VVN als Organisation und Interessenvertretung der Verfolgten des Naziregimes 1947 gegründet, und zwar in Tübingen. Wir, die Unterzeichnenden, kennen und schätzen die VVN-BdA als Organisatorin von Bildungsveranstaltungen zur Geschichte von Verfolgung und Widerstand und zu Fragen des Rechtsextremismus und der Rechtsentwicklung heute, als Veranstalterin von Bildungsfahrten zu Gedenkstätten, als diejenige Organisation, die die Erinnerung an die Verfolgten des Naziregimes und an diejenigen, die gegen den deutschen Faschismus Widerstand leisteten, wachhält. So wäre das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof, das die sterblichen Überreste von Hunderten von Naziopfern beherbergt, ohne das Engagement der VVN-BdA wahrscheinlich längst in Vergessenheit geraten – genauso wie der Mössinger Generalstreik gegen die Nazis von 1933, damals der einzige in Deutschland.

Wir schließen uns der Forderung Esther Bejaranos an, die ebenfalls einen offenen Brief an Sie, Herr Minister Scholz, geschrieben hat. Bitte sorgen Sie dafür, dass die VVN-BdA, aber auch andere bürgerschaftlich engagierte Organisationen, die aktuell vom Entzug der Gemeinnützigkeit betroffen oder bedroht sind, weiter gemeinnützig bleiben. Denn: „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!“ (Esther Bejarano).

Eine Petition findet sich unter https://www.openpetition.de/petition/online/die-vvn-bda-muss-gemeinnuetzig-bleiben