Corona-Tagebuch: Ernst Heimes

Besuche sind aber für 75-Jährige gefährlich. Ich solle ja nicht aufmachen, wenn es klingelt, wurde mir geraten. Aber man kennt mich: Ich brächte das nicht fertig, jemanden wegzuschicken. Also wurde fremdbestimmt kurzerhand die Klingel abgestellt.

Seitdem ist wirklich Ruhe. Bis auf die, die übers Handy anrufen und sagen, meine Klingel sei offenbar kaputt. Sie stünden unten und ich solle bitte aufmachen, es sei kalt und keine Schule ...

Um mich und andere vor Ansteckung zu schützen, wird für mich manchmal eingekauft, das erspart mir den Weg zum Kaufland. Das ist freundlich und stellt eine echte Erleichterung dar. Ich schreibe den klassischen Einkaufszettel, gebe einen Schein dazu und warte. Bei der Rückkehr wird alles auf den Tisch gestellt und abgerechnet. Diesmal auch eine große Packung Toilettenpapier, die stand aber gar nicht auf dem Zettel. Als Erklärung sagt die Botin: „ Es haben alle wie verrückt Klopapier gekauft. Ich wollte nicht auffallen.“

Ich fahre sonntags oft nach Wurmlingen ans Grab meiner Frau neben der Bergkapelle. Vor einer Woche lese ich auf meinem Handy einen kurzen Text: „Ich dachte mir, weil Sie gerade das Grab nicht besuchen können, mach’ ich das für sie.“ Beigefügt, quasi als Beweis, waren ein Foto vom Grab und eins von der Friedhofsmauer hinab ins Neckartal.

Ich wollte immer mal wissen, wie ich aussehe, wenn ich mich länger nicht rasiere. Ich hatte immer Angst vor den Kommentaren der Kollegen. Jetzt aber, in der Isolation, war die Gelegenheit günstig, ich riskierte es. Inzwischen bin ich schon über den Dreitagebart hinaus. Es sieht nicht gut aus. Aber vielleicht geht die selbstauferlegte Ausgangssperre noch bis Dezember, dann kann ich dem weißen Bart des Heiligen Nikolaus auf dem Rottenburger Weihnachtsmarkt 2020 vielleicht graugesprenkelt bartmäßig Konkurrenz machen.

Übrigens, ich bin froh, wenn die Klingel wieder angestellt wird!