„Man kann nicht alles haben“

Tübinger Uhland-Plakette für Christoph Müller

Der ehemalige TAGBLATT-Chef Christoph Müller kehrte nach 15 Jahren erstmals nach Tübingen zurück. Der in Berlin lebende Kunstsammler nahm die Uhland-Plakette von Oberbürgermeister Boris Palmer entgegen.

22.10.2019

Von Ulla Steuernagel

Christoph Müller (rechts) nahm die Plakette von Boris Palmer entgegen, dem, wie er sagte, „bekanntesten Oberbürgermeister Deutschlands“. Mit der „streitlustigen Familie Palmer“ habe er, so Müller, schon früh Erfahrungen gemacht. Der Vater knallte ihm seine wöchentlichen Anzeigen oft persönlich auf den Schreibtisch.Bild: Ulrich Metz

Christoph Müller (rechts) nahm die Plakette von Boris Palmer entgegen, dem, wie er sagte, „bekanntesten Oberbürgermeister Deutschlands“. Mit der „streitlustigen Familie Palmer“ habe er, so Müller, schon früh Erfahrungen gemacht. Der Vater knallte ihm seine wöchentlichen Anzeigen oft persönlich auf den Schreibtisch.Bild: Ulrich Metz

Nicht immer nur diejenigen, die alles allen recht machen wollen, nicht immer nur sie sollten geehrt werden. „Menschen mit Ecken und Kanten haben Ehrungen genauso verdient.“ So sprach Boris Palmer am Dienstagabend im Öhrn des Tübinger Rathauses und wünschte sich mehr Bereitschaft zum „Streit als Salz in der Suppe der Demokratie“.

Der Oberbürgermeister, der die Uhland-Plakette, anders als die Hölderlin-Medaille, ganz eigenmächtig und im „Alleingang“ verleihen darf, freute sich, seine insgesamt fünfte einem Mann zu überreichen, der ihn selber „als politische Persönlichkeit geformt“ habe. Palmer, der als junger Student bei seinen häufigen Besuchen in der TAGBLATT-Redaktion von Verleger und Chefredakteur Christoph Müller gerne als „mei Borisle“ begrüßt wurde, betrachtete diese politische Prägung durch Leserbriefe und vielfältige Meinungsäußerungen als durchaus weitreichend: „Vielleicht wäre ich heute nicht Oberbürgermeister!“ Palmer dankte dem früheren Verleger und Chefredakteur Christoph Müller, vor allem für dessen „große Verdienste um die politische Kultur und die demokratische Debatte in unserer Stadt“, für seine „meinungsstarke und streitlustige Zeitung“, die immer den demokratischen Diskurs gesucht habe.

Palmers Laudatio vor den rund achtzig geladenen Gästen – darunter ehemalige und jetzige Redakteurinnen und Redakteure, Weggefährten und Freunde Müllers – wurde immer wieder durch gutgelaunten Widerspruch des Geehrten unterbrochen. Der ehemalige Verleger hatte sich, so verriet der OB, sogar ausbedungen, als erster zu sprechen, noch vor dem Laudator. Aber so wollte Palmer die Ordnung nicht auf den Kopf gestellt sehen. Er hatte Müller beschieden: „Man kann nicht alles haben!“

Palmer hatte nicht nur im Stadtarchiv eine dicke Müller-Akte gefunden, sondern auch in den Memoiren von Vorvorgänger Eugen Schmid geblättert. Müller und Schmid schienen für ihn ein „im Streit vereintes“ Gespann. Auch wenn Schmid manches Mal, so zitierte er den damaligen OB, „eisige publizistische Brisen aus der Uhlandstraße anwehten“. Dennoch war Schmid überzeugt, „keine auf-, er- und anregendere Zeitung in deutschen Landen“ zu kennen.

Als Christoph Müller dann mit neuer Nadel am Revers das Wort ergriff, war schon einer der Wünsche Palmers erfüllt: Er hatte Müller nämlich wieder mit Tübingen zusammenführen und versöhnen wollen. Müller war dem Ort, an dem er so lange gelebt und gearbeitet hatte, 15 Jahre lang fern geblieben. So schmerzhaft der Abschied auch für ihn war, der auch eine Trennung von seiner Redaktion bedeutete, so wichtig und richtig sei er doch gewesen. Müller, der in einer leicht ironisch gebrochenen paternalistischen Mischung seine Redaktion immer mit den Worten vorgestellt hatte, „die gehören älle mir!“, beschwor noch einmal den besonderen „TAGBLATT-Spirit“. Hier leistete man sich so ungewöhnliche Mitarbeiter wie einen Karikaturisten und international anerkannte Fotografen. Hier arbeiteten (oder arbeiten noch) Journalisten, die insgesamt 30 Preise holten und nach ihrer Tübinger Zeit nicht selten zu großen Medienhäusern wechselten.

Müller fand, die Uhland-Plakette gebühre nicht nur ihm, sondern allen Mitarbeitern, „inklusive meiner Mitverlegerin Elisabeth Frate“: „Ich möchte ihr ausdrücklich dafür danken, dass sie nicht ver- und behindert hat, was ich mit meiner Redaktion gemacht habe.“

Der ehemalige TAGBLATT-Chef streifte in seiner dreiviertelstündigen Rede Ereignisse aus bewegten Zeiten. Sein Vater, der vorherige Verleger und Chefredakteur Ernst Müller, hatte ihn von Berlin nach Tübingen geholt: „Sonderlich gern bin ich dem Ruf nicht gefolgt!“ Schließlich hatte Sohn Christoph schon in der Großstadt Fuß gefasst und das Bohème-Leben liebgewonnen.

In Tübingen musste ihm dann die „Quadratur des Kreises“ gelingen. Er musste die Zeitung zwischen Unistadt und Land austarieren. Das Experiment glückte, die Auflage stieg an die 50.000er Grenze. Auch an jene „folgenschwere Politaffäre“, die SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin 2002 den Job kostete, erinnerte Müller: „Mir hat das alles andere als Vergnügen bereitet.“

Etliche Jahre nach dem Tod seines Lebensgefährten, dem Regisseur und Bühnenbildner Axel Manthey, war für Müller die Zeit gekommen, wieder zurückzugehen nach Berlin. Längst war er auch im – zunächst heimlichen – Hauptberuf Kunstsammler geworden. „Die Beschäftigung mit der Kunst ist letztlich meine wahre Heimat geworden“, gestand er. Ein zweites Tübingen wurde für ihn der Erholungsort Sassnitz auf Rügen. Müllers Fazit: „Es gibt auch ein erfülltes Leben nach dem TAGBLATT.“

Journalist und Sammler

Christoph Müller wurde 1938 in Stuttgart geboren, wuchs in Tübingen auf, war zunächst Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“ und übernahm 1969 die Leitung der TAGBLATT-Redaktion von seinem Vater Ernst Müller, der ab 1946 Mitherausgeber der Tageszeitung war. 2004 verkaufte Christoph Müller seine TAGBLATT-Anteile und zog nach Berlin. Müller, leidenschaftlicher Kunstsammler, stiftete mittlerweile bedeutende Anteile seiner Sammlung an das Berliner Kupferstichkabinett, an das Staatliche Museum Schwerin und das Landesmuseum in Greifswald. 2019 bekam er den Verdienstorden des Landes Mecklenburg-Vorpommern verliehen.

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Erstellt:
22.10.2019, 19:24 Uhr
Aktualisiert:
23.10.2019, 21:53 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 22sec
zuletzt aktualisiert: 23.10.2019, 21:53 Uhr

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