Kreis Tübingen

Wirtschaft: Brillinger geht an Ottobock

Der Tübinger Orthopädietechnik-Mittelständler mit seinen 280 Beschäftigten wird vom norddeutschen Global Player übernommen. Die Gründerfamilie zieht sich aus dem operativen Geschäft zurück.

05.04.2023

Von Eike Freese

Wollen Kontinuität vermitteln in einer Zeit des Übergangs: Ingrid und Klaus Fischer, die langjährigen Chefs aus der Gründerfamilie. Bild: Ulrich Metz

Wollen Kontinuität vermitteln in einer Zeit des Übergangs: Ingrid und Klaus Fischer, die langjährigen Chefs aus der Gründerfamilie. Bild: Ulrich Metz

Im Tübinger Westen geht demnächst ein Stück schwäbische Wirtschaftsgeschichte zu Ende. Die Unternehmer Klaus und Ingrid Fischer und damit die Gründernachkommen des Gesundheits-Spezialisten Brillinger, ziehen sich aus dem Unternehmen zurück – und übergeben ihren Mittelständler an den Global Player Ottobock.

Der Orthopädietechnik-Riese mit Sitz im niedersächsischen Duderstadt hat weltweit über 8000 Mitarbeiter, weist Umsätze um die eine Milliarde Euro aus und ist auf Expansionskurs. Demgegenüber steht Brillinger mit seinen 280 Mitarbeitern für den agilen Mittelständler aus der Region: 30 Millionen Euro setzten die Tübinger in ihren zehn Standorten um. Von „Schlucken“ will der langjährige Brillinger-Geschäftsführer Klaus Fischer dennoch nicht sprechen.

„Im Gegenteil. Es war der Plan unserer Geschäftsleitung, aber ist auch die Strategie von Ottobock, Brillinger als renommierten Platzhirsch in Baden-Württemberg zu erhalten“, so Fischer: „Die Marke Brillinger ist stark und bekannt, das schätzt auch Ottobock.“ Größere Strukturveränderungen melden die beiden Unternehmen aktuell nicht, aber die wichtigste Nachricht für die Beschäftigten, dass alle Arbeitsplätze erhalten bleiben, ist schonmal fix. „Beide Unternehmen stehen gut da und es ist nicht unwahrscheinlich, dass beide Unternehmen auch noch weiter wachsen werden“, so Klaus Fischer. Ehefrau Ingrid Fischer ergänzt: „Wir sehen unsere Verantwortung darin , dem Unternehmen und den Mitarbeitern Sicherheit zu geben und eine sehr gute Perspektive für die Zukunft.“

Sicher ist: Der Branche wird das Geschäft in den nächsten Jahrzehnten nicht ausgehen. Die Gesellschaft altert und die Ansprüche an immer ausgefeiltere Gesundheits-Technik wachsen mehr und mehr. Brillinger etwa hat schon immer nicht nur einzelne Privatkunden versorgt, sondern ist mittlerweile in ein komplexes Netzwerk aus Wissenschaft, Klinik, Pflege und breiter Gesundheitsversorgung in der Region und in Baden-Württemberg eingebunden. „Das hat historisch vor allem mit der Nähe zum UKT und der BG-Unfallklinik zu tun“, sagt Klaus Fischer. „Und das ist auch einer der Vorteile, den Ottobock an uns geschätzt hat: Dass wir viel Know-How direkt an uns gebunden haben. In Zeiten des Fachkräftemangels ist das ein unglaubliches Kapital.“

Deshalb will Brillinger auch weiter in großem Maßstab ausbilden. 25 Lehrlinge sind aktuell im Unternehmen beschäftigt. Die Standorte unter anderem in Tübingen, Reutlingen, Stuttgart, Mössingen, Rottenburg, Engen und die Logistik in Kirchentellinsfurt bleiben. Auch die Geschäftsbereiche von Brillinger werden nicht weniger: Aktuell ist das Unternehmen in der Orthopädie-Technik aktiv sowie in der Schuhtechnik, Arm- und Silikontechnik, Reha-Technik, im Sanitätsfachhandel und im Bereich der häuslichen Pflege. Ein Hauptgrund für das Interesse des Global Players war es unter anderem, sich bei der Patientenversorgung zu verbreitern. „Das hat einfach gepasst“, sagt Klaus Fischer: „Beide Unternehmen sind im Kern Familienunterunternehmen. Wir kennen uns gut, das Vertrauen war da.“

Branchentypisch gab es nämlich durchaus auch weitere Interessenten an Brillinger, etwa über Banken und Private-Equity-Strukturen. „Das sind Anleger, die aber möglicherweise eben nicht eine nachhaltige Unternehmens-Entwicklung im Sinn haben“, sagt Ingrid Fischer. Für die Übernahme seien von vornherein nur Anbieter infrage gekommen, die nicht schnell weiterveräußern wollen. „Uns war klar, dass Brillinger eine solche Entwicklung nicht nehmen darf“, so Ingrid Fischer.

Eine Nachfolge in der eigenen Familie hat das Unternehmerpaar nicht gefunden und findet das auch okay so. Die eigenen vier Kinder haben Herausforderungen und Verantwortung in anderen Berufen gesucht und gefunden. „Aber dadurch, dass unsere Branche nicht besonders groß ist, kennen wir auch die Köpfe bei Ottobock und seinen Tochterfirmen, so dass eine Vertrauensbasis da ist“, sagt Klaus Fischer.

Bis Ende Mai werden Klaus und Ingrid Fischer noch im Unternehmen sein, dann übernimmt Michael Schneller, schon länger bei Brillinger geschäftsführend dabei, die Gesamtleitung. Auch ein Ottobock-Repräsentant wird dann in die Tübinger Geschäftsführung einrücken. Klaus und Ingrid Fischer hingegen werden „sich ganz bewusst und in bestem Vertrauen zurückziehen“, wie Klaus Fischer sagt. Geplant ist eine ziemlich aktive Rente, mit viel Kultur, Reisen und dem einen oder anderen ehrenamtlichen oder beratenden Engagement. Demnächst geht es auf eine Architektur-Reise nach Singapur. „Und besonders freuen wir uns“, so Ingrid Fischer, „endlich mehr Zeit für unsere fantastischen fünf Enkelkinder zu haben.“

Die Brillinger-Geschichte: seit 1865 in Tübingen:

Heute hat Brillinger 280 Beschäftigte und erwirtschaftet einen Umsatz von rund 30 Millionen Euro. Ein Großteil des Wachstums begann in der Ära Klaus Fischer: 1976 übernahm der Sohn der Familie den Betrieb mit damals nur 60 Mitarbeitern. Damals war das Unternehmen schon über 100 Jahre alt: Bereits 1865 wurde das Sanitätshaus Brillinger unter Führung von Richard Brillinger in der Neuen Straße in Tübingen eröffnet. Die Firma übernahm im Laufe der Geschichte viele Dienste um den Medizin- und Forschungsstandort Tübingen herum. Seit 1998 ist die Brillinger-Firmenzentrale im Handwerkerpark.

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Erstellt:
05.04.2023, 14:55 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 23sec
zuletzt aktualisiert: 05.04.2023, 14:55 Uhr

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