Blonde Töchter von grünen Professoren

Boris Palmer über Plastikinterviews, Zitate, das Schließen von Grenzen und die Tübinger Bevölkerung

Der „Spiegel“ befragt in seiner aktuellen Ausgabe Oberbürgermeister Boris Palmer zu seinen Ansichten zur Flüchtlingskrise. Wie wir berichteten, löste das Interview einigen Wirbel aus. Das TAGBLATT hakte nochmal nach: Wie haben Sie das gemeint, Herr Palmer?

15.02.2016

Von Ulla Steuernagel und Gernot Stegert

Boris Palmer steht zu seinen Äußerungen im vierseitigen „Spiegel“-Interview, aber die Kurzfassung habe ein falsches Bild ergeben. Archivbild: Metz

Boris Palmer steht zu seinen Äußerungen im vierseitigen „Spiegel“-Interview, aber die Kurzfassung habe ein falsches Bild ergeben. Archivbild: Metz

Herr Palmer, Sie haben jetzt kurz vor der Landtagswahl dem „Spiegel“ ein paar saftige Zitate geliefert. Wie kam es zu dem Interview?

Der „Spiegel“ hatte schon im Dezember angefragt. Er wollte ein Porträt über den Politikertypus Palmer machen, der irgendwie anders ticke als die „normale“ Berliner Politik. Ich wollte das Gespräch aus dem Landtagswahlkampf heraushalten. Der Termin ist aber jetzt in den Februar gerutscht und das Gespräch wurde anders als ursprünglich gedacht. Es wäre wahrscheinlich keine falsche Entscheidung gewesen, es auf den April zu verschieben.

Warum wurde das Interview jetzt anders als Sie dachten?

Ich hab mich auf das angekündigte Thema eingestellt und nicht die Geistesgegenwart besessen, im Interview zu sagen: Stopp, jetzt drängen Sie mich in die Rolle des Außenpolitikers. Und was wir dann doch dazu beredet haben, kommt im Interview gar nicht mehr vor.

Hätten Sie das nicht ahnen können?

Das sagen mir die Parteifreunde jetzt auch. Das wurmt mich schon. Was ich aber nicht ahnen konnte, war, dass „Spiegel online“ die Diskussion auf drei bis vier Zitate beschränkt, die ein massiv einseitiges Bild zeichnen, und den Rest hinter der Pay-Wall versteckt. Bei der Lektüre der dpa-Meldung hätte ich auch erst einmal gedacht: Was, zum Kuckuck, treibt dieser Palmer da? Ich finde mich hier einseitig als Grenzzaunbauer stilisiert. Ich steh zu allem, was ich in dem Interview gesagt habe, weil es insgesamt wie meine Neujahrsrede ausgewogen ist und Extreme in beide Richtungen zurückweist. Wer das ganze Interview gelesen hat, wird sagen: Ich bin nicht in jedem Punkt damit einig, aber das ist diskussionswürdig. Ich hätte natürlich alles, was man missbrauchen kann, aus dem Interview herausstreichen können. Das machen viele Politiker so und das Ergebnis sind Plastikinterviews.

Haben Sie nicht auch Freude daran, Leuten „Pippi-Langstrumpf-Politik“ und „Ponyhof“-Denken vorzuwerfen? Warum sind das Feindbilder für Sie?

Was ich damit meine, kann ich erläutern. Ich bin ständig in Diskussionen mit Menschen, die sagen, die Grenzen sollten offen sein und alle, die Hilfe suchen, haben ein Recht darauf, die in Deutschland zu finden. Das ist „Pippi Langstrumpf“-Politik. Nach dem Motto: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Das ist objektiv unmöglich, egal wie moralisch man ist.

Und wie sieht Ihre Hilfe aus?

Im Interview steht auch, dass ich für die Aufnahme weiterer Millionen von Flüchtlingen bei uns plädiere, die sollen sogar direkt geholt werden und gar nicht erst selber kommen müssen. Da steht auch, dass ich jede Grenzschließung in Deutschland ablehne. Es ist aber ausgeschlossen, dass 80 Millionen Menschen, die in Syrien, Irak und Afghanistan leben, bei uns Hilfe finden können. Es kann nur ein sehr kleiner Prozentsatz sein. Das ist alles, nur darum geht’s mir. Doch wenn ich das sage, wird mir schon vorgeworfen, ich sei ein Unmensch.

Aber ist es nicht auch blauäugig zu denken, man könnte Europa befestigen und den Flüchtlingsstrom aufhalten?

Das ist genau die Debatte, die ich mit dem „Spiegel“ geführt habe. Kurz und knapp: Es geht nicht um Europa rundum. Kein Flüchtling kommt über den Ärmelkanal. Im Moment geht es ausschließlich um die völlig offene Landroute über Griechenland. Diese Route war früher geschlossen und ist jetzt offen, weil wir Griechenland finanziell ausgetrocknet haben. Ich glaube, man wird nicht drumherum kommen, wieder ordentlich zu kontrollieren. Wenn wir das Problem nicht europäisch lösen, dann machen es die Visegrad-Staaten ohne Europa in Mazedonien. Das liefert Griechenland gewissermaßen dem Verfall aus.

Holen Sie als Kommunalpolitiker nicht ein bisschen weit aus?

Ich glaube, dass die Kommunen nach und nach unter den Flüchtlingszahlen und dem Tempo zusammenbrechen werden. Es gibt eine Grenze bei der Aufnahmefähigkeit deutscher Kommunen, nur die nehmen noch auf, der Rest Europas tut’s schon nicht mehr. Das ist die Verbindung der Kommunalpolitik mit der Weltpolitik. Denn spätestens wenn Deutschland nicht mehr kann, steht der europäische Zusammenhalt auf dem Spiel, denn alle anderen Staaten sagen, wir nehmen keine Flüchtlinge mehr auf, Frankreich und Großbritannien jeweils nur 30 000! In dieser Situation sage ich, wir können nicht allen anderen deutsche Moral vorschreiben. Unsere oberste Aufgabe ist, eine europäische Lösung mitzutragen. Die Beseitigung der Fluchtursachen in Syrien, Irak und Afghanistan dauern zu lange, daher ist die einzige Möglichkeit, die ich aktuell sehe, eine effektive Grenzkontrolle in Griechenland. Da müssen wir mit Geld, mit Grenzschützern und mit Kompetenz mithelfen. Man kommt nicht daran vorbei, man muss zwei Güter gegeneinander abwägen: die Leistungsfähigkeit unserer Kommunen und Europa gegen den Flüchtlingsschutz durch offene Grenzen.

Sie setzen vor allem auf das Prinzip Abschreckung?

Es geht nicht um Abschreckung, sondern um Umkehrung des Anreizsystems. Im Moment gibt es nur den Anreiz, sich allein durchzuschlagen. Diesen Anreiz sollte man reduzieren und andererseits wirklich großzügig bei der Aufnahme von Flüchtlingen sein. Ich würde sogar sagen, wir könnten dieses Jahr nochmal eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Man muss aber das Signal geben: Wartet, wir helfen euch – mit Leistung vor Ort und auch einem Weg nach Deutschland. Es wird dann attraktiver zu sagen, ich nehme den Weg übers Kontingent. Familiennachzug ja, aber auch über den Kontingentweg, nicht übers Alleine-Durchschlagen.

Aber wie geschieht die Auswahl?

Ich komm jetzt in den Bereich, wo der Tübinger wieder die Welt erklären muss. Ich mach immer den Fehler, das auch zu tun, weil ich glaube, dass ich sie verstehe. Ich meine jedenfalls, dass das Problem nicht unlösbar ist, den Rest müssen Fachleute beantworten.

Nun sind Sie aber nicht Europa-Politiker, sondern Oberbürgermeister. Woraus leiten Sie Ihre Beobachtung ab, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet?

Wir bekommen in den großen Veranstaltungen zu den Flüchtlingsunterkünften natürlich Zustimmung. Und ich schätze, dass Tübingen darin ziemlich einzigartig und großartig ist. Gleichzeitig stelle ich aber fest, dass die Leute auf mich zukommen und sagen: Ich hab da große Bedenken und Sorgen, vor allem wenn eine Flüchtlingsunterkunft zu mir ins Wohngebiet kommt. Wir verteilen die Flüchtlinge auf vierzig Standorte in der Stadt und überall kommen Leute zu mir und reden über ihre Sorgen. Das ist nicht repräsentativ, aber ich sehe, zu welchen Bevölkerungsgruppen sie gehören. Es ist die Mitte unserer Stadtgesellschaft. Keine irgendwie rechtslastigen Leute, sondern hochanständige, angesehene Leute.

Grüne Professoren, die sich um ihre blonden Töchter sorgen, wenn 60 arabische Männer in der Nähe wohnen?

Den Satz habe ich nicht erfunden, das ist genau so gefallen. Ich habe ihn zitiert als Hinweis darauf, dass die Belastungsgrenzen in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind. Es ist kein randständiges Phänomen mehr. In einem solchen Gespräch hab ich ganz konkret gesagt: Ich seh noch, wie wir die 2000 Flüchtlinge unterbringen. Aber wenn es dann so weitergeht, dann habe ich keine Lösung mehr. Die Leute antworten: Das seh ich ein, da müssen wir jetzt durch, aber – wörtliches Zitat – das verändert unser Leben dramatisch.

Sie haben sich mit Ihren Äußerungen zum Sprachrohr der Warner und Skeptiker gemacht. Vielleicht ziehen Sie solche Stimmen in der Bevölkerung nun an?

Ja, das stimmt auch. Ich höre mich einfach um und versuche möglichst genau zu beobachten. Am Anfang haben sich vor allem die kleinen Leute skeptisch geäußert, auch weil sie Abstiegsängste haben. Sie sagen: Ich bin froh, dass es Sie gibt. Diese Leute gehören zum unteren und meist schweigenden Drittel der Gesellschaft. Mittlerweile sind die Sorgen in allen Milieus angekommen.

Warum betonen Sie die blonden Töchter so? Spielen Sie mit der Assoziation: blonde deutsche Frau?

Es war ein Zitat. Soll ich eine schwarze Frau daraus machen, wenn blonde Frau gesagt wurde?

Diese Art des Zitierens erinnert an die AfD-Methode: Etwas im Nebulösen lassen, aber mit einschlägigen Attributen anreichern, die altbekannte Bilder hervorrufen.

Allein dass ich mich der Frage stellen muss, zeigt, dass ich beim Vorablesen des Interviews hätte erkennen müssen, dass es falsch verstanden werden kann. Das habe ich aber nicht erkannt, das ist mein Fehler. Gleichwohl war meine Intention zu zeigen, dass jemand der politisch im grünen Spektrum verankert ist, so etwas ausspricht.

Die wunderbare Zivilgesellschaft in Tübingen, die Freiwilligen und Ehrenamtlichen, warum kommen die bei Ihnen so selten vor?

Ich erwähne in jedem Interview, dass die Hilfsbereitschaft in unserer Stadt besonders ausgeprägt ist und dass, was wir bisher geschafft haben, im wesentlichen der Zivilgesellschaft zu verdanken ist. Nur das ist für Medien wie den „Spiegel“ keine besonders spannende Nachricht. Aber auch da gebe ich Ihnen Recht, ich hätte es in dem Text unterbringen sollen.

Als Politiker wissen Sie aber doch sehr genau, wie man Fragen nicht beantwortet oder umlenkt.

Das weiß ich, aber ich hasse das. Und dass man sich nach der Lektüre eines Interviews fragt: Was will er uns damit sagen? Die Flüchtlingspolitik ist zu wichtig, als dass man den Fragen ausweichen sollte. Ich nehme den damit verbundenen Ärger in Kauf, weil ich glaube, dass es nötig ist, dass man sich auf die mühsame Suche nach einer Lösung begeben muss.

Gefallen Sie sich als „Bad Boy“?

Das ist die parteiinterne Sicht auf mich. Wenn ich rausgehe auf die Straße, muss ich mir keine Sorge machen, dass ich verprügelt werde. Der Streit in der Partei geht ja in meinem Fall weniger um die Lösung der Flüchtlingsfrage, sondern mehr um das Verhältnis des eigenen Grundsatzprogramms und der eigenen Überzeugung zur veränderten Wirklichkeit. Da bin ich natürlich der Bad Guy, wenn ich sage, so wie wir es wollten, funktioniert’s nicht.

Die Partei nimmt es wohl auch übel, wenn sie Ihre Ansichten aus dem „Spiegel“ erfahren muss?

Den parteiinternen Weg versuche ich auch, allerdings ist er vor allen Dingen zeitaufwendig und ich bin nicht jeden Tag in Berlin, wo diese Diskussionen geführt werden. Ich finde diese innerparteiischen Debatten zwar wichtig, aber auch vollkommen zweitrangig im Vergleich dazu, dass im Moment das europäische Einigungswerk auf dem Spiel steht, einer Union, die uns 70 Jahren Frieden in Europa beschert hat.

Was hält Sie eigentlich noch in der Grünen Partei?

Es gibt für mich zwei Gründe, warum ich nirgendwo anders hingehen könnte. Keine andere Partei würde so eine Diskussion, wie wir sie gerade führen, zulassen und auch so viel Streit aushalten. Der zweite Grund ist die Ökologie. Die ökologische Grundüberzeugung, dass wir in diesem Jahrhundert darüber entscheiden werden, ob die Menschheit den Planeten plündert oder für die nachfolgenden Generationen in einem lebenswerten Zustand erhält.