Tübingen

Boris Palmer im Interview: „Wir müssen die Alten wirksam schützen“

Boris Palmer - Der streitbare OB wird für den „Tübinger Weg“ in der Corona-Krise viel gelobt. Ein Gespräch über das Rechthaben, folgenschwere Versäumnisse der Politik und den Schmerz, den ein zerrüttetes Verhältnis zwischen ihm und seiner Partei mit sich bringt.

22.12.2020

Von Roland Müller

„Dass das so massiv missverstanden werden konnte, gehört zu den frustrierendsten Erfahrungen des Jahres“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer über seine ­Äußerungen im Frühjahr. Bild: Ulmer

„Dass das so massiv missverstanden werden konnte, gehört zu den frustrierendsten Erfahrungen des Jahres“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer über seine ­Äußerungen im Frühjahr. Bild: Ulmer

Im Frühjahr gehörte Boris Palmer wegen seines Satzes „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ zu den meistgehassten Politikern Deutschlands – nun ist der Tübinger Oberbürgermeister Dauergast in Talkshows, und der „Tübinger Weg“ gilt als vorbildlich für den Schutz älterer Menschen in der Corona-Krise. Was Außenstehende als erstaunliche Wandlung sehen, ist für den Grünen ganz logisch. Im Skype-Gespräch kritisiert er Fehler der Corona-Politik – und wirbt für eine Aussöhnung mit seiner Partei.

Herr Palmer, Sie haben sich früh offensiv in die Corona-Debatte eingemischt. Wer Sie kennt, weiß, dass Rechthaben für Sie nicht ganz unwichtig ist. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie sehr fühlen Sie sich heute bestätigt?

Gemeine Frage – aber mindestens 9.

Warum?

Weil wir jetzt in einen zweiten Lockdown gestolpert sind, den niemand wollte. Das ist extrem ineffizient: Kontakte müssen allen verboten werden, obwohl 99 Prozent der Leute gar nicht infiziert sind. Und wie wir da wieder rauskommen, weiß im Moment auch niemand so recht zu sagen. Meine Kernthese war dagegen: Wir müssen gezielter vorgehen und die Eigenschaft des Virus, die Jungen weitgehend zu verschonen, zu unserem Vorteil nutzen. Jemand, der über 80 Jahre ist, hat ein 500-fach höheres Risiko, an Corona zu sterben als Menschen unter 40. Wenn es uns gelingt, die Alten wirksam zu schützen, kann man Schulen und Kitas offen lassen und die extremen Schäden eines langen Lockdowns an Wirtschaft und Gesellschaft klein halten.

In Tübingen werden schon seit September regelmäßig Tests in Altenheimen gemacht, es gibt subventionierte Ruftaxen für Ältere und Appelle für reservierte Einkaufszeiten. Sie haben das als Modell für ganz Deutschland angepriesen. Nun gibt es doch Ausbrüche in Pflegeheimen. War der Erfolg des „Tübinger Wegs“ nur eine Fata Morgana?

Ich empfehle, da genau hinzuschauen. Wir hatten tatsächlich lange Zeit keine Ausbrüche in Tübinger Altenheimen, als es in Baden-Württemberg schon tausende solcher Fälle gab. Zu sagen, weil wir jetzt Ausbrüche in drei Heimen haben, hat alles nix genützt, wäre falsch. Zwei Ausbrüche konnten wir durch das engmaschige Testen früh erkennen – vor Symptombeginn, so dass die Infektion in einem Heim bisher auf niemanden weitergetragen wurde, im anderen Heim die meisten Bewohner verschont hat. Das ist ja genau der Sinn unserer Strategie.

In einem dritten Heim sind aber nun 35 Bewohner und 11 Beschäftigte infiziert.

Das ist kein städtisches Heim, sondern ein privates. Der Betreiber sagt, er habe keine Schnelltests. Dabei haben Stadt und DRK mehrfach angeboten, so viele Tests zu besorgen, wie die Heime brauchen. Wir prüfen, warum diese Info nicht ankam.

Also ist der „Tübinger Weg“ kein Wunder­mittel, hat aber aus Ihrer Sicht etwas gebracht?

100-prozentige Sicherheit gibt es auch durch unsere Strategie nicht. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir durch regelmäßiges Testen seit September Ausbrüche verhindern oder eingrenzen konnten. In mehreren Fällen sind Infektionen von Pflegepersonal aufgespürt worden, bevor Bewohner angesteckt wurden. Das ist die entscheidende Barriere. Außerdem kommt es nicht von ungefähr, dass Bund und Länder vor einer Woche vereinbart haben, solche Tests in Heimen verpflichtend anzuordnen.

Ist es dafür jetzt nicht reichlich spät?

Es ist die richtige Maßnahme. Was mich ärgert, ist, dass das viele Monate nicht nur verschleppt, sondern aktiv verhindert und abgelehnt wurde. Mit unserer Forderung, diese Tests in Heimen regelmäßig ohne konkreten Anlass durchzuführen, sind die Tübinger Pandemiebeauftragte Lisa Federle und ich immer wieder abgeblitzt und haben dann halt beschlossen, dass wir es auf eigene Faust machen. Wir waren mit unserem Start im September genau rechtzeitig vor der zweiten Corona-Welle dran. Flächendeckend wird es leider erst jetzt umgesetzt, wo schon viele tausend Menschen gestorben sind. Mit medizinischen Schutzmasken ist es ja auch so: Die haben wir wie Bremen schon Anfang November an alle Senioren verschickt, der Bund bringt sie erst jetzt in die Apotheken.

Also, siehe oben, Boris Palmer hatte mal wieder Recht?

Der „Tübinger Weg“ war so nur möglich, weil wir hier mit der Cegat ein Labor haben, das die Tests binnen 24 Stunden auswerten kann und uns im Preis sehr entgegenkam. Und wir mit Lisa Federle eine sehr engagierte Notärztin haben, die mit ihrem Arztmobil jeden Tag an einem anderen Heim zum Testen Station machte. Dafür hat sie zu Recht das Bundesverdienstkreuz bekommen. Billig war das alles übrigens nicht: Wir haben eine halbe Million Euro aus der Stadtkasse für unser Schutzkonzept bereitgestellt, und das vor einer drohenden Finanzkrise. Dazu braucht man einen mutigen Gemeinderat, und ich bin sehr dankbar, dass alle Fraktionen hinter der Initiative stehen.

Ob man Risikogruppen speziell schützen soll, statt alle Menschen einzuschränken, ist in der Corona-Debatte sehr umstritten. Warum hat die Politik so davor zurückgeschreckt?

Weil es unpopulär war. Differenzierung wurde mit Diskriminierung verwechselt. Ich habe von alten Menschen übelste Beschimpfungen per Mail bekommen, der Landesseniorenrat hat sich empört, weil wir alten Menschen Ruftaxen zum Bus-Preis oder Einkaufszeiten reservieren wollten. All das sei Diskriminierung der Älteren. Dabei ist es umgekehrt: Wenn ich Menschen mit 500-fach erhöhtem Todesrisiko gleich behandle wie 20-Jährige und ihnen keinen besseren Schutz biete, ist das die Diskriminierung. Aber der Debatte wollte man sich nicht stellen.

Aber auch Experten wandten sich dagegen.

Nicht alle: Der Virologe Hendrik Streeck wirbt für den Schutz von Risikogruppen, und sein Kollege Alexander Kekulé hat mit mir und anderen dazu schon im April einen Aufruf im „Spiegel“ geschrieben. Das wissenschaftliche Gegenargument war, es sei sowieso unmöglich, vulnerable Gruppen zu schützen, also könne man es gleich lassen. Ich finde, damit darf man sich nicht abfinden. Man muss dann zumindest versuchen, so viel zu erreichen wie möglich, statt gar nichts zu tun.

Zeigt die zweite Welle nicht, dass man sowieso beides braucht: Allgemeine Maßnahmen plus Schutz der Risikogruppen?

Es sind sogar drei Säulen: Die erste ist die Kontaktverfolgung. Wenn die gut funktioniert, brauche ich die anderen gar nicht, weil das Virus sich nicht ausbreiten kann. Südkorea und Taiwan haben sich entschieden, sich lieber vor Viren zu schützen, anstatt, wie wir, ihre Daten vor dem Staat zu verstecken. Bei uns geht der Datenschutz so weit, dass Gesundheitsämter in 75 Prozent der Fälle nicht wissen, wo sich die Menschen anstecken. Das ist absurd. Die zweite Säule ist der effektive Schutz der Risikogruppen. Erst wenn die beiden Säulen nicht mehr tragen, sollte man zum Lockdown greifen, der jede Woche 50 Milliarden Euro kostet, schwere Schäden verursacht und extreme Eingriffe in unsere Grundrechte bedeutet. Dass wir die anderen beiden Säulen nicht mal im Rohbau fertig haben, halte ich für den eigentlichen Fehler.

Jetzt müssen wir noch einmal auf Ihren Satz vom April kommen ...

Ja, der unselige Satz.

Es hieß, Sie wollten alte Menschen sterben lassen, es gab heftige Kritik, die Grünen forderten Sie zum Austritt auf. Jetzt erhalten Sie Anerkennung für den Schutz älterer Menschen. Wie passt das zusammen?

Wer das Interview anschaut, wird sehen, dass ich schon damals nichts anderes gemeint habe. Mit dem Lockdown retten wir Menschen, die bei uns eine niedrige Lebenserwartung haben – opfern aber durch wirtschaftliche Folgen Kinder in armen Ländern des Südens; die Welthungerhilfe schätzt, dass Lockdown-Folgeschäden bis zu 130 Millionen Menschen in den Hunger getrieben haben. Dieses ethische Dilemma wollte ich benennen. Aber nicht, um bei uns die Alten sterben zu lassen, sondern es aufzulösen mit der Forderung, sie effektiver, besser zu schützen. Dass das so massiv missverstanden werden konnte, gehört zu den frustrierendsten Erfahrungen des Jahres.

Ist es nicht seltsam, dass die Äußerung ein Riesen-Skandal war – und als im Herbst das echte Sterben in schlecht geschützten Heimen begann, war das dann halt so?

Es hat mich schon irritiert, dass das einfach so hingenommen wird. Als wir im September mit unseren Tests in Heimen begonnen haben, hat das außer regionalen Medien niemanden interessiert. Obwohl doch klar war, dass, wenn wir nichts tun, in der zweiten Welle viele Menschen sterben werden. Ich glaube, dass wir uns in unseren Debatten viel zu oft über gesinnungsethische Fragen empören und die Verantwortungsethik ignorieren. Statt den Debattenraum mit moralisierenden persönlichen Vorwürfen über falsch verstandene Halbsätze zu füllen, sollten wir danach urteilen, was jemand macht. Oder biblisch gesprochen: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“

Im Sommer haben die Grünen Sie zum Austritt aufgefordert, zuletzt sprachen Sie öfter von „Versöhnung“. Geht da noch was?

Es tut schon weh, wenn die eigenen Leute sagen, wir wollen nicht mehr, dass Du zu uns gehörst. Besonders weil ich überzeugt bin: Wer nach jetzt 14 Jahren meiner Amtszeit nach Tübingen kommt und die konkreten Ergebnisse der Stadtpolitik besichtigt, der wird feststellen, dass das grüne Programm an kaum einem anderen Ort so real geworden ist wie bei uns. Dass hier Ökonomie und Ökologie wirklich versöhnt werden, wir im Klimaschutz ebenso vorneweg marschieren wie bei der Entwicklung moderner Impfstoffe. Da könnte man als Grüner eigentlich sagen, das ist ein Aushängeschild für uns als Partei. Ich würde auch gern helfen im anstehenden Landtagswahlkampf.

Versöhnung heißt ja, dass beide Seiten sich bewegen müssten – auch Sie. Ist das realistisch? Fehler einzugestehen oder nachzugeben gilt nicht gerade als Ihre Stärke ...

Da haben Sie Recht. Für das Ziel, mit meiner Partei wieder an einem Strang zu ziehen, werde ich mir das abverlangen.

2022 steht die OB-Wahl in Tübingen an. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Sie wieder antreten wollen. Wollen Sie?

Bei der Frage spielt es schon eine Rolle, ob es mir zumindest gelingt, die Tübinger Grünen zu überzeugen, mit mir ein drittes Mal ins Rennen zu gehen. Gegen die Partei anzutreten, müsste ich mir reiflich überlegen. Was wir auf den Weg gebracht haben, insbesondere das revolutionäre Klimaschutzprogramm, das Tübingen bis 2030 klimaneutral machen soll, wäre es schon wert, noch einmal durchzustarten. Außerdem sollten wir es uns als Grüne nicht leisten, nach Stuttgart und Freiburg auch Tübingen zu verlieren. Mit den Leistungen der stärksten Fraktion und des Amtsinhabers gemeinsam in die Wahl zu gehen, scheint mir da die klügste Strategie.

Vertrauter Winfried Kretschmanns

Boris Palmer (48) wuchs bei Stuttgart als Sohn des Obstbauern und „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer auf, der bei mehr als 250 Bürgermeisterwahlen antrat und mehrfach Haftstrafen wegen Beleidigung absaß. Nach dem Lehramtsstudium für Mathematik und Geschichte kam Palmer 2001 in den Landtag. 2006 gewann er die OB-Wahl in Tübingen, 2014 wurde er mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt. Palmer ist in seiner Partei umstritten – vor allem wegen Positionen in der Flüchtlingspolitik. Er gilt aber als Vertrauter von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Palmer hat drei Kinder.