Seenotrettung

Bleiben braucht Hoffnung

Beim Arabischen Filmfestival ging es auch um Menschenrechte, Europas Werte und die Abschottungspolitik der Europäischen Union.

09.10.2018

Von Dorothee Hermann

Das Arabische Filmfestival in Tübingen setzt stets auch politische Akzente. Am Samstag diskutierten im Kupferbau Politiker und Gäste über die „Seenotrettung im Mittelmeer – Europas Werte auf dem Spiel“. Leider war die Veranstaltung sehr kurzfristig angesetzt: Von den eingeladenen Tübinger Bundestags- und Landtagsabgeordneten konnten allein Heike Hänsel, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, und Daniel Lede-Abal (für die Grünen im Landtag) kommen. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer musste ebenfalls absagen.

Das Festival sehe sich „mit beiden Seiten des Mittelmeers“ verbunden, sagte dessen Leiter, der Tübinger Politikwissenschaftler Adwan Taleb. „Was auf der anderen Seite passiert, betrifft auch Europa. Was in Europa passiert, betrifft auch die andere Seite.“ Ganz ähnlich sei es an der Grenze zwischen den USA und Mexiko oder zwischen Myanmar und Bangladesh.

„Die Seenotretter dürfen nicht mehr aktiv sein“, so Taleb. „Hat die EU-Politik versagt? Muss die Zivilgesellschaft diese Aufgabe übernehmen?“ Zuvor hatten die Gäste in zwei eindringlichen Kurzdokumentationen gesehen, wie die Besatzungen der Rettungsschiffe „Aquarius“ oder „Sea Watch“ noch vor kurzem hunderte Erschöpfte von überfüllten Schlauchbooten holen, darunter kleine Kinder, und auch Tote bergen.

„Warum unternimmt die Politik nichts? Warum trägt die Bundesregierung das mit?“ fragte eine Zuhörerin. Die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel erwiderte: Es gab eine staatliche Seenotrettung, die von Italien initiierte Marineoperation „Mare Nostrum“, nachdem immer mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken waren. Sie haben mehr als 100 000 Menschen gerettet, so Hänsel: „Die Bundesregierung und viele andere Staaten lehnten es ab, das Engagement EU-weit auszudehnen.“ Doch Nichtregierungsorganisationen, Grüne und Linke fordern: „Wir brauchen eine zivile Seenotrettung, staatlich finanziert“, sagte sie. „Die Kriminalisierung der Retter muss aufhören.“

Die EU-Grenzschutzorganisation Frontex beschränkt sich auf den küstennahen Bereich, sagte sie. Seit Oktober 2015 ist die multinationale EU-Militäroperation European Union Naval Force – Mediterranean (Eunavfor Med) zwischen der italienischen und der tunesischen und libyschen Küste im Einsatz. „Auf hoher See gibt es keine zivile Seenotrettung mehr“, bedauerte sie. Damit gebe es auch keine Zeugen mehr für das, was dort passiert, beispielsweise von seiten der libyschen Milizen oder der libyschen Küstenwache. „Kein Flüchtling will von den ehemaligen Peinigern wieder aufgenommen werden.“

In Libyen drohe Migranten „temporäre Sklaverei“, ergänzte Lede-Abal: „Bis man den Preis für die Überfahrt abgearbeitet hat.“ Projekte wie in Marokko, jungen Flüchtlingen Berufsschulausbildungen zu ermöglichen, damit sie „mit einem gewissen sozialen Prestige“ in ihre Heimat zurückkehren können, seien noch die Ausnahme.

Hänsel forderte mehr legale Einreisemöglichkeiten, „damit die Leute sich nicht bei Schleppern verdingen müssen“. Für die Linken-Politikerin sind die Handelspolitik und die Rüstungsexporte der Europäischen Union die vordringlichen Fluchtursachen.

Ein Zuhörer fragte nach Ideen für die Zukunft jenseits der derzeitigen Abschottungspolitik. Lede-Abal sieht da „noch keinen Silberstreif“. Die aktuelle österreichische EU-Ratspräsidentschaft habe signalisiert, eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen sei nicht realistisch, so der Grünen-Politiker. Gleichzeitig verstärke die Europäische Union die Abschottung. „Die Grenzschutzagentur Frontex soll nochmals um 10 000 Beamte aufgestockt werden.“

Festivalleiter Taleb sagte, er benutze das Wort „Flüchtling“ nur ungern. „Mein Vater kommt aus dem Kernland Israels, aus Palästina, und gilt immer noch als Flüchtling“ – 70 Jahre nach der Vertreibung und Besatzung durch Israel. Ebenfalls seit 1948 gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: „Die Menschenrechte müssen auch eingelöst werden“, forderte Taleb. Sie gälten auch für diejenigen, die auf der anderen Seite des Mittelmeers auf die Familienzusammenführung warten. Hinsichtlich des fast überall niedergeschlagenen Arabischen Frühlings sagte er: „Gebt den Leuten einen Funken Hoffnung, damit sie bleiben können.“ Doch manchmal hat er den Eindruck, Europa sei ein Diktator an der Macht lieber als Demokratie in diesen Ländern.

Die Sorge der Zurückbleibenden

Das Arabische Filmfestivalblickt auch auf die Herkunftsländer von Flüchtlingen. Im Dokumentarfilm „Libya: Unspeakable Crime“ geht es um das Verbrechen der systematischen Vergewaltigung von Männern als Mittel der Erniedrigung und Persönlichkeitszerstörung (heute, 18.30 Uhr, Kupferbau, Hörsaal 23, englische Untertitel). Der Abschlussfilm „Benzine“ aus Tunesien zeigt ein Elternpaar, das nicht weiß, was aus seinem Sohn geworden ist, der vermutlich nach Italien gegangen ist (Samstag, 13. Oktober, 20.30 Uhr, Kupferbau, Hörsaal 22, englische Untertitel).

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Erstellt:
09.10.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 09.10.2018, 01:00 Uhr

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