Musical

Bis(s) zum Liebestod

Traumwetter zur Premiere, bis zu 800 Zuschauer und eine Top-Besetzung: Frank Wildhorns „Dracula“ auf der Ulmer Wilhelmsburg.

14.06.2021

Von Jürgen Kanold

Thomas Borchert als Graf Dracula und Alexandra-Yoana Alexandrova als Mina. Foto: Jochen Klenk/Theater Ulm

Thomas Borchert als Graf Dracula und Alexandra-Yoana Alexandrova als Mina. Foto: Jochen Klenk/Theater Ulm

Düster wabernder Nebel, Wolfsgeheul. Es ist eine Schauergeschichte, ja, aber zunächst mal ein Glücksgefühl: endlich wieder Theater, nach siebeneinhalb Monaten Lockdown die erste Premiere. Vorbei die kulturell blutleere Zeit, möchte man sagen, aber das Publikum trägt Mund-Nasen-Schutz – nur auf der Bühne wird zugebissen: „Dracula“ auf der Ulmer Wilhelmsburg, das Musical der amerikanischen Broadway-Größe Frank Wildhorn an einem traumhaften Frühsommerabend. „Welcome back“, grüßt Intendant Kay Metzger, der Intendant des Theaters Ulm, das Publikum. Der erste Jubel.

Man kommt sich wieder nahe: Platzbelegung im Schachbrettmuster, weniger als 1,5 Meter Abstand, so ermöglicht das Modellprojekt des Landes Baden-Württemerg bis zu 800 Zuschauerinnen und Zuschauern pro Abend den Vorstellungsbesuch. Und der ist ein lange vermisstes Live-Erlebnis – wie die Premiere am Freitagabend zeigte.

„Dracula“ also, mit großzügiger Unterstützung des Unternehmers und Wildhorn-Freunds Walter Feucht und deshalb top besetzt, ein Aufgebot, das deutschlandweit nicht besser zu finden ist. Allen voran Thomas Borchert in der Titelpartie: der Herrscher, die transsylvanische Autorität des Bösen, kühl, nicht von dieser Welt und ebenso der berauscht-emotionale Verführer, der dann doch eine Seele hat.

Professor van Helsing (Patrick Stanke, vorne) kämpft gegen den Vampir. Foto: Theater Ulm

Professor van Helsing (Patrick Stanke, vorne) kämpft gegen den Vampir. Foto: Theater Ulm

Unzählige Male ist Bram Stokers Roman fürs Theater adaptiert oder verfilmt worden, was für ein sagenhafter Stoff! Grusel, Okkultes, das Unheimliche; und es geht um das ewige Leben – das einzusaugende Blut als verjüngender Saft. Zudem steht die vampirische Praxis metaphorisch noch für einen ganz anderen Austausch von Körperflüssigkeiten. Die Sexualität in Vampir-Storys ist ein Fall für Sigmund Freuds Couch. Wildhorns Musical aber erzählt nicht nur eine aufwändige Liebesgeschichte mit schmachtenden Pop-Balladen, sondern ein Erlösungsdrama aus der alten Welt, in der #MeToo noch kein Thema war.

Sehnsucht nach Erlösung

Dracula sucht nicht nur Opfer, sondern verliebt sich in Mina, die den Anwalt Jonathan (feiner Auftritt: Philip Schwarz) heiratet. Der ist ihr aber zu brav. Dracula ist eine andere Nummer: „Nur um dich zu lieben, bin ich geboren“, gesteht sie ihm. Der demonstriert seine Macht an Lucy, einer Freundin Minas, die er zur Untoten schändet. Aber eigentlich ist Dracula auch nur ein armer Kerl, ein Verfluchter, der wie Richard Wagners Holländer von einer ihn bedingungslos liebenden Frau erlöst werden muss: „Weißt du, wie mein Lebens ist/ unendlich und vergebens/ blutbefleckt, brutal und leer,/ gefangen in der Zeit.“

Draculas (Thomas Borchert) erstes Opfer ist Lucy (Navina Heyne). Foto: Jochen Klenk

Draculas (Thomas Borchert) erstes Opfer ist Lucy (Navina Heyne). Foto: Jochen Klenk

Bis(s) zum Liebestod heißt die Devise. Ein starkes Duettfinale, wie in der Oper: Alexandra-Yoana Alexandrova singt die tapfer sich verzehrende Mina mit emotionaler Wucht. Alex Balga, der österreichische Musical-Profi, inszeniert „Dracula“ souverän auf einer Breitwandbühne vor der stimmigen Original-Festungsmauer. In der Mitte: ein Aufmarschgebiet für Chor und Statisten vor der pseudogotischen Fenster-Reihe einer Schloss-Dekoration wie aus dem Fernsehen der Schwarzweiß-Ära (Ausstattung: Petra Mollérus). Darüber thronend ein Sarg im aufgespannten Fledermaus-Tuch; an den Seiten zwei schwarze Nebenbühnen.

Dazu Theaternebel und starke Lichteffekte, gerne auch blutrote. Für Action sorgt der drogensüchtig trauernde Vampirjäger Professor van Helsing (dämonisch erhaben: Patrick Stanke), auch wenn er Lucy diskret hinter der Kulisse pfählt. John Davies dreht in seinen Soli als Irrenhausinsasse Renfield und Draculas Medium toll auf. Drei Vampirbräute sorgen für den Showteil. Und wenn Lucy anfangs einen Mann sucht, kommt diese Szene in walzernder Operettenlustigkeit daher: Navina Heyne verwandelt sich mit Powerstimme von der Salon-Zicke zur Tollwütigen.

Eine Show mit viel Theaternebel: Der erstklassige Patrick Stanke singt den Vampirjäger Professor van Helsing. Foto: Jochen Klenk

Eine Show mit viel Theaternebel: Der erstklassige Patrick Stanke singt den Vampirjäger Professor van Helsing. Foto: Jochen Klenk

Frank Wildhorns Partitur ist stilistisch vielfältig, liefert dramatisches Klangfutter: von der Klaviermelodie, Percussion-Effekten und Streicherschmelz bis zur heulenden Gitarre. Rock-Gewitter und sinfonischer Bombast. Dazu eingängige Songs. Hendrik Haas dirigiert rund 25 Ulmer Philharmoniker (samt Gästen) in den Katakomben der Zitadelle: Die Klangabmischung ist laut, reißt das Publikum mit. „Dracula“: die ersehnte Kultur-Transfusion. Euphorischer Jubel.

Corona-Regeln und Shuttle-Busse

Bis zum 23. Juli spielt das Theater Ulm 29 Vorstellungen von „Dracula“. Voraussetzung für einen Besuch ist eine Impfbescheinigung, der Nachweis einer Genesung oder ein aktueller negativer Corona-Test. Testmöglichkeiten (geringe Kapazität) gibt es auch an der Wilhelmsburg und am Parkplatz der Firma Müller in Jungingen (Buchbrunnenweg). Zudem gilt die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Mund-Nasen-Bedeckung, auch während der Vorstellung. An der Wilhelmsburg gibt es keine Parkplätze, weshalb von der Firma Müller aus wieder ab zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn Shuttle-Busse fahren. Die Gastronomie ist jeweils von 18.30 Uhr an und in der Pause geöffnet. Karten, Infos: www.theater-ulm.de

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Erstellt:
14.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 11sec
zuletzt aktualisiert: 14.06.2021, 06:00 Uhr

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