Interview zu Schulen in der Pandemie

„Bis zu 30 Prozent haben große Lernlücken“

Wie sollen abgehängte Schüler wieder Anschluss finden? Bildungsanalyst Günter Klein über Corona-Folgen und Aufhol-Programme des Landes.

16.06.2021

Von AXEL HABERMEHL

Wie schwerwiegend sind die Folgen der Corona-Schulschließungen? Foto: dpa

Wie schwerwiegend sind die Folgen der Corona-Schulschließungen? Foto: dpa

Stuttgart. Er soll die schulpolitischen Entscheidungsträger im Land mit Zahlen und Daten versorgen. Günter Klein ist Direktor des Instituts für Bildungsanalysen, das dem Kultusministerium untersteht. Nach monatelangem Ausnahmezustand an den Schulen: Wie groß ist der Schaden der Pandemie? Und wie kann man ihn heilen?

Herr Klein, wie viel Unterricht ist wegen Corona ausgefallen?

Günter Klein: Das ist sehr unterschiedlich und es gibt dazu keine abschließenden Informationen. Grundsätzlich konnten Lehrer durch Fern- und Wechselunterricht in hohem Maß Unterricht realisieren, der Fernunterricht ist durch Erfahrungsgewinn qualitativ immer besser geworden.

Viele Schüler empfanden Fernunterricht eher als Krücke. Mal andersherum gefragt: Wie viel Inhalt, wie viel Lernstoff wurde verpasst?

Lassen Sie es uns vom Ende her betrachten: Welche Lernrückstände haben Schüler aufgebaut? Die Antwort lautet wieder: Das ist sehr unterschiedlich. Es wird Schülerinnen und Schüler geben, bei denen wir keine Rückstände feststellen. Einige haben sogar größere Fortschritte gemacht als in „normalen“ Jahren. Es wird aber auch Schüler geben, deren Möglichkeiten zum Lernen begrenzt waren und bei denen wir Rückschritte sehen.

Für wie groß halten Sie den Anteil dieser stark Betroffenen?

Wir sollten von einer Größenordnung von etwa 20, vielleicht 30 Prozent ausgehen. Wissenschaftliche Erkenntnisse – unter anderem aus der IGLU- oder PISA-Studie – deuten auf diese Größenordnung hin, wenn es um so genannte Risikoschüler geht. Daher kann dies als Richtwert dienen.

Wen hat Corona am härtesten erwischt?

Vor allem jene Klassen, die von Mitte Dezember bis jetzt keinen Präsenzunterricht hatten. Ihnen fehlte über Monate die Struktur der Schule. Der Verlust alltäglicher Begegnungen mit Freunden, Mitschülern, Lehrern ist das eigentliche Drama. Viele soziale Erfahrungen, die für das Aufwachsen eines Menschen eminent wichtig sind, fielen einfach aus. Das macht mir fast noch mehr Sorgen als Lernrückstände.

Wie wird nun individuell festgestellt, wie groß die Rückstände sind?

Lehrer kennen ihre Schüler meist sehr gut, teils seit Jahren, und sind dafür ausgebildet, wahrzunehmen, wo Schwächen liegen oder Lücken entstanden sind. Das ist Alltagsgeschäft von Lehrern. Ergänzend dazu gibt es verpflichtende Lernstandserhebungen: In der Jahrgangsstufe 5 heißt das „Lernstand 5“, in den Klassen 3 und 8 gibt es „Vera 3“ und Vera 8“. Das sind empirisch abgesicherte diagnostische Verfahren, die verlässliche Hinweise geben, welche Kompetenzen Schüler haben. Die „Vera“-Tests wurden dieses Schuljahr verschoben und finden nun im Herbst statt. Wir als IBBW werden für alle Stufen Instrumente anbieten, die Lehrer freiwillig einsetzen können, um festzustellen: Wo stehen meine Schüler? Es ist also durchweg möglich, den Lernstand festzustellen, um dieses Wissen für das Ankommen und Reduzieren von Lernlücken im Sinne der Kinder und Jugendlichen einzusetzen.

IBBW-Direktor Günter Klein (61). Foto: Kultusministerium BW

IBBW-Direktor Günter Klein (61). Foto: Kultusministerium BW

Welche Ergebnisse erwarten Sie von „Lernstand 5“ dieses Jahr?

Ich rechne damit, dass es im unteren Leistungssegment gewisse, aber keine dramatischen Rückstände geben wird. Ich gehe davon aus, dass Schüler aus sozial schwächeren Familien größere Lücken haben. Es gab schon immer einen klaren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Diese Kluft ist durch die Pandemie größer geworden, das wissen wir aus Studien. Deshalb müssen das die kompensatorischen Maßnahmen, die nun geplant werden, berücksichtigen.

Wie sehen diese Maßnahmen aus?

Im Prinzip geht es um drei Phasen. Die erste hat begonnen, da geht es um die Zeit zwischen Pfingst- und Sommerferien. Im Programm „Bridge the Gap“, einer Kooperation von Kultus- und Wissenschaftsministerium, unterstützen 550 freiwillige Lehramtsstudenten im Unterricht.

550 Studenten bei 4500 Schulen – vielleicht etwas knapp?

Umgerechnet ist das wenig, aber das Programm findet nicht landesweit statt, sondern nur im Umfeld der beteiligten Hochschulen. Es ist ein Pilotprojekt, wir schaffen einen wichtigen Erfahrungsraum, um zu erkennen, wie wirksam diese gezielte Unterstützung mit speziellem Material für Schüler mit besonderem Bedarf ist.

Und Phase 2?

In den Sommerferien finden erneut die Programme „Lernbrücken“ und „Sommerschulen“ statt. Hier wird es gezielte Lernangebote geben, aber auch musische, sportliche und künstlerische Angebote – auch um die sozial-emotionale Komponente anzusprechen.

Wie sieht Phase 3 aus?

Im Herbst beginnt „Rückenwind“, ein großes, gemeinsames Förderprogramm von Bund und Ländern. Es ermöglicht über zwei Jahre Unterstützung für besonders betroffene Schüler. Zusätzliche Mentoren werden Lehrkräfte im Regelunterricht unterstützen, aber auch außerhalb des Unterrichts ergänzende Angebote machen. Auch dazu wird im Land spezielles Material erarbeitet, Mentoren werden geschult.

Was, wenn Corona auch dann noch den Schulbetrieb einschränkt?

Wenn Präsenzunterricht unmöglich ist, werden wir auch im Rahmen von „Rückenwind“ andere Wege überlegen, um jene zusätzlich zu unterstützen, die besondere Unterstützung benötigen.

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Erstellt:
16.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 16.06.2021, 06:00 Uhr

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