Tübingen · Mühlstraßensperrung

Betroffene wollen mitreden

Die Sperrung der Durchfahrt für Autos von der Neckarbrücke zur Mühlstraße wird auf SPD-Antrag jetzt Thema im Tübinger Gemeinderats-Ausschuss.

14.08.2019

Von Gernot Stegert

Bilder und Montage: Ulrich Metz

Bilder und Montage: Ulrich Metz

So einfach, wie sich das Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer mit der Sperrung der Durchfahrt von der Neckarbrücke zur Mühlstraße für Autos gedacht hat, wird es nicht. Der Widerstand gegen seine Anordnung eines zweimonatigen Tests ab September wächst. Jetzt hat die SPD-Fraktion einen Antrag zum Thema gestellt. Sie will die von Palmer als Zugeständnis nach der Kritik an seinem Vorgehen bereits angebotene außerordentliche Sitzung des neu gegründeten Klimaschutz-Ausschusses am 2. September, die damit stattfindet.

Die Sozialdemokraten haben konkrete Vorstellungen vom Ablauf. Im Antrag steht: „In dieser Sitzung werden Zeitpunkt und Dauer, Begleitumstände und Folgen einer versuchsweisen Sperrung der Mühlstraße für den von der Karlstraße her kommenden MIV (Motorisierten Individualverkehr) zugunsten einer Verbesserung der Bedingungen für den Radverkehr diskutiert.“ Da eine Sperrung der Mühlstraße zunächst zu einer Verlagerung des Autoverkehrs in die Weststadt und durch Lustnau führen würde und damit zu einer noch größeren Belastung für die dort betroffenen Anwohner und zu einem höheren CO2-Ausstoß, sollen die Ortsbeiräte Lustnau und West angehört werden; ebenso eine Vertretung der Radfahrenden.

Die SPD-Fraktion widerspricht, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzenden Ingeborg Höhne-Mack, Palmers Aussage, Beteiligung in der Frage der Bekämpfung des Klimawandels sei Zeitverlust. Wie sinnvoll die versuchsweise Sperrung selbst ist, „könnte zum Beispiel wesentlich davon abhängen, wie intensiv gleichzeitig Daten erhoben und wie die Einhaltung der Sperrung kontrolliert wird“. All dies müsse im Sinne der Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Bürger und Bürgerinnen offen diskutiert werden. So werde „mehr für den Radverkehr erreicht als durch den formalen Verweis auf die Kompetenzen eines Oberbürgermeisters“.

Nach dem Ortsbeirat Lustnau und der Bürgerinitiative Weststadt hat der Ortsbeirat West in einem offenen Brief seine Position formuliert: „Als Mitglieder des Ortsbeirats West sind wir beunruhigt und befremdet über das Verfahren und den Zeitpunkt der versuchsweisen Sperrung der Mühlstraße für den PKW-Verkehr“, schreiben Gabriele Steffen (AL/Grüne), Anders Zmaila (SPD), Carmen Schweikert (Tübinger Liste), Georg Riege (CDU), Gudrun Dreher (Linke) und Gerhard Baumann (FDP). „Bereits dieser Versuch wird gravierende Auswirkungen auf den Verkehr und die Lebensqualität in der Weststadt haben. Erst recht gilt dies, wenn die Sperrung zur dauerhaften Lösung erklärt würde, ohne sie durch weitere entschiedene Maßnahmen zur Reduzierung der Verkehrsbelastung der Weststadt vorzubereiten und zu begleiten.“ Ein Test setze „solide Daten zur Situation vorher und nachher“ voraus. Auch Palmers Vorgehen wird gerügt: „Der Ortsbeirat hätte einbezogen werden müssen, selbst wenn dies rein rechtlich nicht erforderlich ist.“

Die Linken-Fraktion schrieb dem OB ebenfalls. Das Thema gehöre auch in den Ausschuss für Planung, Verkehr und Stadtentwicklung oder in den Gemeinderat. Auch die Linke ist „für eine Verbesserung für den Radverkehr“, sieht aber Gesprächsbedarf, „insbesondere was die Belastung anderer Stadtteile (Lustnau, Weststadt) betrifft“. Die Fraktion fordert Palmer auf, „zukünftig Maßnahmen dieser Bedeutung nicht per Anweisung oder Dekret zu entscheiden, sondern mit dem Gemeinderat vorher zu beraten. Kehren Sie zurück zu einer kollegialen Umgangsweise!“

Die Linke bestreitet auch den Zeitdruck: „Da von der geplanten Maßnahme keine Minderung, sondern eher eine Erhöhung der PKW-Schadstoffbelastung in der Stadt zu erwarten ist, halten wir eine besondere Dringlichkeit nicht für geboten.“ Zudem habe der grüne OB „zum wirklich dringenden Thema Geflüchtete und Sterben im Mittelmeer dem OB-Kollegen Neher aus Rottenburg und seinem Brief eine Abfuhr erteilt“. Das Thema „Sichere Häfen“ müsse auf die Tagesordnung der nächsten Sitzungsrunde.

OB Boris Palmer erklärt sich in offenem Brief

Tübingens Oberbürgermeister hat den Ortsbeiräten in Lustnau, in der Weststadt und den Mitgliedern der BI Weststadt in einem Brief auf drei Seiten geantwortet. Er spricht von einem „Missverständnis“: „Nein, ich nehme nicht an, dass innerhalb von nur acht Wochen eine nennenswerte Anzahl von PKW-Fahrten auf andere Verkehrsmittel verlagert wird. Die Verkehrswissenschaft ist sich ziemlich einig, dass solche Effekte frühestens nach zwei Jahren voll wirksam werden.“ Er folgert: „Die von Ihnen angeregte Erhebung von Verkehrsdaten und die Verschiebung des Versuches ist aus meiner Sicht aus diesem einfachen Grund nicht sinnvoll. Im Gegenteil: Der Versuch sollte noch zu einer Zeit stattfinden, in der das Wetter nicht zu einem Rückgang des Radverkehrs führt.“ Zahlen müssten gar nicht erhoben werden. „Die Stadt verfügt über ein Computermodell des Verkehrs in der Stadt, anhand dessen sich die Effekte eines solchen Eingriffes ausreichend präzise vorhersagen lassen.“ Der Versuch solle vielmehr „die Praktikabilität und die Verkehrssicherheit einer Sperrung“ und eines mittigen Zweirichtungsradweges überprüfen“. Der OB sagt zu: „Ich werde dem Gemeinderat vorschlagen, nach Abschluss des Versuches eine Befragung mit der Bürger-App durchzuführen.“