Corona

Besuch auf einer Intensivstation: „Wir fahren mit 140 auf eine Wand zu“

Die Intensivstationen im Land füllen sich weiter mit Covid-Patienten. Das hat auch Folgen für Menschen mit anderen Erkrankungen: Eine optimale Versorgung ist teils nicht mehr möglich. Ein Vor-Ort-Besuch.

24.11.2021

Von David Nau

Kommen langsam an die Grenze der Belastungsfähigkeit: Mitarbeiter auf der Intensivstation des RKH-Klinikums in Ludwigsburg. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Kommen langsam an die Grenze der Belastungsfähigkeit: Mitarbeiter auf der Intensivstation des RKH-Klinikums in Ludwigsburg. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Ludwigsburg. Ein lauter Piepton bringt die Pläne von Professor Dr. Götz Geldner mal wieder durcheinander. Der Ärztliche Direktor der Abteilung für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerz­therapie am RKH-Klinikum in Ludwigsburg steht auf dem Flur der Intensivstation und schaut einem der Ärzte hinterher, der zügig in Richtung Aufzug eilt, wenige Augenblicke später folgt eine Intensivpflegerin mit einem Materialwagen. Der Piepton ist der sogenannte Rea-Alarm; irgendwo im Klinikum braucht ein Patient sofort die Hilfe der Intensivmediziner, muss im schlimmsten Fall reanimiert werden.

Für Geldner bedeutet der Piepton wieder einmal Improvisation: Er muss sich schon jetzt Gedanken machen, wo er ein Intensivbett herbekommt. Denn muss der Patienten wirklich reanimiert werden, muss er danach sofort auf die Intensivstation. Die ist an diesem Tag Mitte November aber bereits restlos belegt. „Wir müssen schauen, welcher unserer Patienten auf der Intensivstation am stabilsten ist. Der kommt dann auf eine andere Station“, erklärt Geldner. Eine optimale Versorgung sieht anders aus.

Zurück in seinem Büro nimmt Geldner in einem schwarzen Ledersessel Platz und berichtet, dass diese Art der Medizin inzwischen immer häufiger vorkommt. „Wir arbeiten nicht mehr in einem individualmedizinischen Modus, sondern es geht darum, für möglichst viele Patienten möglichst wenig Schaden zu erreichen“, sagt der erfahrene Notfallmediziner. „Ich glaube, dass man in manchen Teilen Baden-Württembergs die optimale medizinische Versorgung nicht mehr garantieren kann.“

Vielerorts sind Betten voll

Grund dafür ist die steigende Zahl an Covid-19-Erkrankten, die in Baden-Württemberg eine intensivmedizinisch Behandlung brauchen. Am Dienstag waren das 510, zwei Wochen zuvor 356 Menschen. Inzwischen sind 22,7 Prozent aller Intensivbetten im Südwesten mit Covid-19-Patienten belegt, landesweit sind noch etwa 11 Prozent aller Betten frei – in vielen Landkreisen sind die Kliniken aber bereits ausgelastet.

Und die Zahl der Intensivpatienten wird weiter steigen, das ist sicher, erklärt Geldner, der auch die Verlegungen von Covid-Patienten in Baden-Württemberg koordiniert. „Das Problem ist: Wer sich jetzt infiziert, kommt mit etwa zwei Wochen Verzögerung auf die Intensivstation. Selbst wenn wir jetzt eine Vollbremsung des öffentlichen Lebens machen würden, wäre das auf den Intensivstationen frühestens in 14 Tagen zu spüren.“ Für den Intensivmediziner, der sonst eher entspannt wirkt, ist das Grund zur Besorgnis. „Ich habe das Gefühl, dass wir mit Vollgas auf eine Wand zufahren.“ Von größeren Einschränkungen für Ungeimpfte, wie etwa 2G-Regelungen, erhofft sich Geldner nicht allzu viel: „Aktuell fahren wir mit 140 auf die Wand zu, die Maßnahmen reduzieren die Geschwindigkeit vielleicht auf 120. Die Wand kommt aber trotzdem.“

Man sei einfach nicht auf eine pandemische Lage vorbereitet gewesen, sagt Geldner. Die Notfallkonzepte seien eher auf Katastrophen ausgerichtet. „Wenn hier in der Nähe ein ICE entgleist, schaffe ich in kürzester Zeit 100 Intensivbetten und kann auch das Personal für diese Betten auf anderen Stationen abziehen“, erklärt der Notfallmediziner. Diesen Ausnahmezustand könne man auch eine Woche aufrechterhalten, bis die große Zahl an Patienten dann innerhalb Deutschland verteilt sind. „Die Pandemie geht jetzt aber schon fast zwei Jahre, und die Covid-Patienten liegen hier mindestens fünf Wochen.“

Das hat nicht nur Auswirkungen auf die vielen Covid-Patienten, die dann ein Intensivbett, ein Beatmungsgerät und vor allem Personal brauchen, das diese Geräte auch bedienen kann, sondern auch auf andere Patienten, die wegen der Überlastung der Intensivstationen keine optimale Versorgung mehr bekommen können. Geldner hat dafür ein Beispiel parat: Seit kurzem liegt auf seiner Intensivstation ein Patient aus Titisee-Neustadt, der eine schwere Hirnverletzung hat. Der Rettungsdienst brachte den Mann aus dem Schwarzwald bis nach Ludwigsburg – und fuhr dabei an großen Krankenhäusern in Villingen-Schwenningen, Tübingen und Stuttgart vorbei. „Der Rettungsdienst ist sicherlich nicht bis nach Ludwigsburg gefahren, weil die Kollegen in den anderen Kliniken keine Lust auf den Patienten hatten“, sagt Geldner. Es habe dort schlicht keine freien Intensivbetten mehr gegeben. „Das nenne ich eine suboptimale Versorgung.“

Aber nicht nur Unfallopfer könnten in den kommenden Wochen Schwierigkeiten bekommen, optimal versorgt zu werden. Auch etwa Krebspatienten drohen Verzögerungen bei ihrer dringend notwenigen Behandlung. In den vergangenen Corona-Wellen habe man in Ludwigsburg noch alle dringenden Krebsoperationen durchführen können, für den Dezember kann Geldner das nicht mehr garantieren – mit schweren Folgen für die Patienten: „Wenn ich einen Patienten mit akutem Bauchspeicheldrüsenkrebs erst im Januar operieren kann, ist das für seine Prognose ziemlich schlecht.“ Diese Auswirkung zeigt auch eine internationale Studie, zu der knapp 5000 Chirurginnen und Chirurgen Daten von mehr als 20 000 Krebspatientinnen und -patienten beisteuerten. Ergebnis: Jeder siebte Tumorpatient hat wegen Lockdowns eine potenziell lebensrettende Krebsoperation nicht erhalten.

Zurück auf der Intensivstation. Vor einem der Patientenzimmer hat sich eine Menschentraube gebildet, alle tragen blaue Klinikkluft und warten auf ihren Einsatz. Hinter der Schiebetür liegt eine junge Frau, sie hat Corona und ist schwanger. Heute wollen die Gynäkologen ihr Kind per Kaiserschnitt auf die Welt holen. Weil die Patientin aber an die ECMO angeschlossen ist – eine Art künstliche Lunge, die das Blut mit Sauerstoff versorgt –, findet die Entbindung direkt auf der Intensivstation statt.

Von der Geburt ihres Kindes wird die Mutter erst erfahren, wenn sie wieder aus dem Koma erwacht. Oder genauer: Falls sie wieder erwacht. Die Chancen seien gar nicht mal so schlecht, sagt Götz Geldner. „Die Frau hat außer Covid keine anderen Erkrankungen. Wenn das Kind auf der Welt ist, können wir sie auf den Bauch drehen und ihr Zustand müsste sich verbessern.“ Drei Mal hatten die Intensivmediziner einen solchen Fall im Laufe der Pandemie bereits auf ihrer Station. Alle drei Male haben Mutter und Kind überlebt.

Hilfe der Bundeswehr angefordert

Die RKH-Kliniken, zu denen auch das Klinikum in Ludwigsburg gehört, fordern in einem Appell die Menschen dazu auf, sich impfen zu lassen, Masken zu tragen und Menschenansammlungen zu meiden. Man habe einen Punkt erreicht, an dem man Ärzte, Pflegekräfte und auch Mitarbeiter aus der Verwaltung schulen müsse, um auf den Covid-Stationen zu unterstützen, heißt es in dem Appell vom Dienstag. Zudem habe man die Hilfe der Bundeswehr angefordert.

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Erstellt:
24.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 07sec
zuletzt aktualisiert: 24.11.2021, 06:00 Uhr

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