Justiz

Beinahe lebenslang

Wegen eines Doppelmords von 1962 saß ein Mann 58 Jahre in Haft – ein Rekord. Nun kommt der 84-Jährige in Freiheit. Doch er muss erst lernen, wie das geht.

24.03.2021

Von ROLAND MÜLLER

Die JVA Bruchsal hat bald einen Rekord-Häftling weniger. Der genaue Entlass-Termin bleibt geheim. Foto: Ronald Wittek/dpa

Die JVA Bruchsal hat bald einen Rekord-Häftling weniger. Der genaue Entlass-Termin bleibt geheim. Foto: Ronald Wittek/dpa

Karlsruhe. Als Peter Bergmann (Name geändert) zwei Menschen ermordet, ist Konrad Adenauer noch Bundeskanzler, John F. Kennedy ist noch am Leben, und der erste Winnetou-Film wird gerade erst gedreht. Im Januar 1962 überfällt und erschießt Bergmann in Berlin ein Liebespaar in einem Auto, im Alter von 26 Jahren wird er wegen Mordes verurteilt – zu lebenslanger Haft.

Jetzt, 58 Jahre später, ist Bergmann 84 Jahre alt, und er sitzt immer noch im Gefängnis in der JVA in Bruchsal. Doch bald wird er freikommen – nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe. Wäre es nach dem Landgericht Karlsruhe gegangen, bliebe Bergmann weiter in Haft, doch das OLG gab der Beschwerde seiner Anwältin statt. „Es ist immer eine Abwägungs-Entscheidung“, sagt OLG-Sprecher Klaus Stohrer: das Recht auf Freiheit gegen eine mögliche Rückfallgefahr. „Die Prognose ist mit zunehmendem Lebensalter meist günstiger.“

Dass „lebenslange“ Haft in Deutschland manchmal wörtlich gilt, ist in der öffentlichen Wahrnehmung kaum bekannt. Der Serienmörder Heinrich Pommerenke verbrachte 49 Jahre im Gefängnis, bis er 2008 im Justizkrankenhaus Hohenasperg starb. Mit einer Haftdauer von 58 Jahren war nun Bergmann der Gefangene mit dem deutschlandweit längsten Knast-Aufenthalt.

Über Jahrzehnte waren alle Gnadengesuche und Anträge auf vorzeitige Entlassung auf Bewährung abgelehnt worden – weil ihn Gutachter und Richter nach wie vor für zu gefährlich hielten. Doch wie gemeingefährlich kann ein 84-Jähriger wirklich noch sein?

„Mein Mandant hat keinerlei Anhaltspunkte geliefert, dass er noch einmal eine erhebliche Straftat begehen wird, war im Strafvollzug nie in Tätlichkeiten verwickelt“, sagt seine Karlsruher Anwältin Angela Maeß. Allerdings sei er in Haft „eher unangepasst“ gewesen, habe sich Sozialarbeitern gegenüber wenig geöffnet. Zuletzt habe er jedoch eine Therapie gemacht.

„Bei einer so langen Haftdauer ist es schlicht eine Frage der Verhältnismäßigkeit“, sagt Maeß. Auch das psychiatrische Gutachten sei differenziert gewesen, die Entlassung absolut vertretbar. „Aus meiner Sicht wären die Voraussetzungen für eine Freilassung schon viel früher gegeben gewesen.“

Die Anwältin betont zudem, wie wichtig es sei, dass das OLG von der Möglichkeit Gebrauch machte, dass die Entlassung nicht sofort umgesetzt wird, sondern verzögert. So bleibe Zeit, ihren Mandanten schrittweise auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. „Das Gericht hat sich die Mühe gemacht, einzelne Lockerungsschritte vorzuschreiben, die nun umgesetzt werden müssen.“

Eigentlich sei es die Aufgabe des Strafvollzugs, gerade langjährig Inhaftierte auf ein Leben danach einzustellen. „Hier ist bei meinem Mandanten jahrelang viel zu wenig passiert“, sagt Maeß. Ausführungen oder auch unbegleitete Ausgänge seien sträflich vernachlässigt worden – ein generelles Problem im Strafvollzug, das auch dazu führe, dass viele Langzeit-Inhaftierte sich bei Lockerungsschritten nicht „bewähren“ könnten und daraufhin auch keine positivere Prognosen erhielten. Auch zur Betreuung Ex-Inhaftierter außerhalb der Gefängnisse gebe es zu wenige Angebote.

Die Sorge, dass Menschen nach langjährigen Haftstrafen wieder morden oder andere schwere Straftaten begehen, ist statistisch eher unbegründet, sagt der Tübinger Kriminologe und Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig. Gerade die „Lebenslänglichen“ hätten nach Entlassung die geringsten Rückfallquoten.

„Das hat einerseits mit dem höheren Alter zu tun“, sagt Kinzig. Straftaten würden statistisch immer unwahrscheinlicher, je älter jemand ist. Außerdem seien etwa Morde oft auf recht spezielle persönliche Konstellationen zurückzuführen, die sich nicht unbedingt wiederholen.

Dennoch seien die meisten Gerichte und Gutachter eher restriktiv bei der Entscheidung über Entlassungen. „Sie bekommen als Gericht nie ein Problem, wenn Sie entscheiden, jemanden im Gefängnis zu lassen“, sagt Kinzig. Wenn aber ein Täter nach einer vorzeitigen Entlassung rückfällig werde, bekämen Richter „ein massives Rechtfertigungsproblem“ – auch wenn diese Fälle sehr selten seien. Die gutachterliche Prognose, ob jemand wieder straffällig wird, sei immer noch sehr schwierig, auch viele Psychiater seien daher eher vorsichtig, zumal das Verhalten im Gefängnisalltag oft kein guter Gradmesser sei, wie sich jemand „draußen“ benehme.

Welche psychischen Folgen jahre- oder gar jahrzehntelange Haft habe, sei zudem gänzlich unerforscht, sagt Kinzig. „Wir erleben ja derzeit in der noch eher milden Form des Corona-Lockdowns, dass das nicht ganz unproblematisch sein kann.“

Der Häftling Bergmann in seiner Zelle in Bruchsal (im Jahr 2012). Foto: picture alliance/dpa

Der Häftling Bergmann in seiner Zelle in Bruchsal (im Jahr 2012). Foto: picture alliance/dpa

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Erstellt:
24.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 24.03.2021, 06:00 Uhr

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