Zeitzeugen über ihre Jugend in der Nazi-Zeit

Bei der jüdischen Nachbarin gab es immer Anisbrot

Um Kindheit im Nationalsozialismus, jüdische Nachbarn und Erfahrungen in der Hitlerjugend ging es am Dienstagabend im Landratsamt Tübingen.

22.02.2018

Von Dorothee Hermann

Alles war auf den Krieg ausgerichtet: Jürg Gaebele (links) und Annemarie Hipp (rechts) berichteten am Dienstagabend im Landratsamt von ihren Kindheitserfahrungen in der NS-Zeit – im Gespräch mit Kreisarchivar Wolfgang Sannwald (Mitte).Bild: Metz

Alles war auf den Krieg ausgerichtet: Jürg Gaebele (links) und Annemarie Hipp (rechts) berichteten am Dienstagabend im Landratsamt von ihren Kindheitserfahrungen in der NS-Zeit – im Gespräch mit Kreisarchivar Wolfgang Sannwald (Mitte).Bild: Metz

Die jüdischen Geschwister Charlotte und Albert Pagel sind der 85-jährigen Tübingerin Annemarie Hipp als besonders liebenswürdige Nachbarn in Erinnerung. Geboren Anfang 1933 „in den letzten Tagen der Weimarer Republik“, wie sie betonte, war Hipp eine von vier Zeitzeugen, die bei der Ausstellung „Jugend im Gleichschritt?! – Die Hitlerjugend zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ im Gespräch mit Kreisarchivar Wolfgang Sannwald von ihrer Kindheit im Nationalsozialismus berichteten. Etwa 70 Interessierte kamen ins Landratsamt.

Besonders Charlotte Pagel, geboren am 29. September 1894 in Berlin und seit 1927 in Tübingen ansässig (wie man in Lilli Zapfs Buch „Die Tübinger Juden“ nachlesen kann), ist der alten Dame noch immer gegenwärtig: „Meine Schwester und ich haben das Fräulein Pagel geliebt. Es war ein ausgesprochen liebevolles Verhältnis. Bei ihr gab es immer Anisbrot. Sie hat uns schöne Sachen geschenkt.“ Albert Pagel, „mehrfach promoviert“, habe den Judenstern tragen müssen. „Am 18. August 1942 wurden sie abgeholt. Man hat sicher darauf geachtet, dass wir Kinder nichts mitkriegen.“

Am 23. August 1942 wurden die Pagels nach Theresienstadt deportiert, und von dort am 23. Januar 1943 nach Auschwitz. Gleich nach der Ankunft wurden sie in der Gaskammer ermordet, hat der langjährige TAGBLATT-Redakteur Hans-Joachim Lang herausgefunden. Als Kind fragte sich Hipp nach der Deportation: „Wie konnte das passieren? Die haben sicher niemand etwas Böses getan.“

Ein SS-Offizier im Haus

Die Hausbewohner der Keltern-straße 8 bildeten eine spezielle politische Konstellation: Im Erdgeschoss wohnten die Geschwister Pagel. In der Mitte lebte „eine kinderreiche Familie mit Mutterkreuz“, sagte die 85-Jährige. „Der Älteste ist dann im Krieg gefallen.“ Eine der Töchter habe beim Arbeitsdienst einen Blinddarmdurchbruch erlitten. Der zugehörige Vater war SS-Offizier. Im Obergeschoss wohnte Hipp mit ihrer Familie. „Mein Vater war Anthroposoph. Das war ja auch verboten.“ Im Haus habe der Vater den SS-Mann als „korrekt“ erlebt. Doch nach der Deportation seien Silberbesteck und Wäsche der Pagels im Haushalt des SS-Offiziers aufgetaucht. „Die Wohnung (der Pagels) war versiegelt. Trotzdem brannte nachts manchmal Licht.“

Die Jüngeren wurden verprügelt

Die Historikerin Elke Thran präsentierte Dokumente über die Hitlerjugend aus dem Kreisarchiv. Beispielsweise brachten die „Rottenburger Nachrichten – Nationalsozialistische Tageszeitung für den Bezirk Rottenburg“ fast täglich die Rubrik „Schwarzes Brett“, wo die jeweiligen Aktivitäten der Hitlerjugend aufgeführt waren.

Jugendguide Jana Schumacher hatte Dokumente aus der NS-Zeit aus der ehemaligen Tübinger Mädchenoberschule (heute: Wildermuth-Gymnasium) mitgebracht. In einem Tagebuch von damals hieß es, „dass Rassenlehre unterrichtet wurde“, berichtete die 18-Jährige. Aber dann seien auch wieder „ganz normale Sachen“ notiert worden, etwa, „dass die Kinder ,Macbeth’ lasen“. Um Propagandafilme wie „Sieg im Westen“ oder „Volksdeutsche Heimkehr“ zu sehen, pflegte die ganze Schule ins Kino Museum zu gehen. Es gab auch „offen nationalsozialistische Inhalte“, sagte Schumacher: beispielsweise, dass Kinder mit Behinderungen von der Schule zu verweisen seien.

Zwiespältige Erfahrungen mit dem von manchen bis heute beschworenen Gemeinschaftssinn bei der Hitlerjugend hat der Rottenburger Jürg Gaebele, Jahrgang 1934, als Kind in Mössingen gemacht. Als Zehnjähriger hätte er sich auf die Geländespiele gefreut. „Es sollte eigentlich ein fairer Wettkampf sein.“ Aber: „Die 13- bis 14-Jährigen waren uns körperlich haushoch überlegen. Die haben das zum Teil ausgenutzt und die Kleineren verdroschen.“ Deshalb war er fast immer enttäuscht von den Spielen, weil er „regelmäßig verdroschen wurde“. Sein Vater war damals schon tot. Seine Mutter habe die Hitlerjugend unterstützt und „zum Teil selbst mitgemacht mit Koch- und Backkursen und Zucker-Ersatzstoffen“.

Gerhard Ankele aus Gomaringen (damals dem Landkreis Reutlingen zugehörig) und Gerhard Dieterle aus Tübingen (geboren 1932) schilderten ebenfalls ihre Erfahrungen. Ankele, Jahrgang 1924, lernte bei der Hitlerjugend das Kartenlesen und wie man mit Morsezeichen Nachrichten übermittelt. „Alles ist natürlich abgerichtet gewesen auf den Krieg“, so Dieterle.

Begleitausstellung mit MG-Attrappe aus Holz

Zum Tag der Archive am Sonntag, 4. März, zeigt das Tübinger Kreisarchiv eine kleine Sonderschau zur Hitlerjugend-Wanderausstellung. Besonders offensichtlich wird der paramilitärische Charakter der NS-Jugendorganisation am Beispiel eines Spielzeugmaschinengewehrs aus Gomaringen. Die MG-Attrappe aus Holz konnte auch das typische getaktete Schussgeräusch der automatischen Waffe nachahmen und wurde bei der Hitlerjugend zum Üben benutzt. Besucher dürfen sich auch im Magazin des Kreisarchivs umsehen und Kartons aus der NS-Zeit öffnen (So, 4. März, ab 14.30 im Landratsamt).

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Erstellt:
22.02.2018, 01:05 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 11sec
zuletzt aktualisiert: 22.02.2018, 01:05 Uhr

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