Einwände bei jeder Unterkunft

Bei allen Standorten für Flüchtlings-Wohnen gibt es Einwände von Nachbarn

Bei den drei Info-Abenden der Stadtverwaltung zu den geplanten Flüchtlingsunterkünften gab es kaum kritische Einwände. Anders sieht es bei den laufenden Verfahren aus. „Bei jeder Unterkunft gibt es Bedenken“, sagte Oberbürgermeister Boris Palmer gegenüber dem TAGBLATT.

15.02.2016

Von Sabine Lohr

Und so soll es gefälligst auch bleiben. Zeichnung Buchegger

Und so soll es gefälligst auch bleiben. Zeichnung Buchegger

Tübingen. „Es ist unglaublich, mit welchen Argumenten Nachbarn versuchen, eine Flüchtlingsunterkunft zu verhindern“, sagte Palmer. Ein besonders krasses Beispiel stellte er kürzlich auf seine Facebook-Seite. Sie stammt von einem „Rechtsanwalt, der nicht mal in Tübingen wohnt“. Offenbar besitzt der Mann aber eine Immobilie in Tübingen. Und in deren Nachbarschaft soll ein bestehendes Gebäude in eine Unterkunft für 60 anerkannte Flüchtlinge umgewandelt werden.

Der Anwalt befürchtet „erhebliche, nicht zumutbare Belastungen“ – weil von einer Flüchtlingsunterkunft und deren Bewohnern „aktiv und passiv erhebliche Gefahren“ ausgingen. Als Beispiel nennt er „die Vorkommnisse in Köln“. Die Polizei jedenfalls sei „nicht in der Lage, die Bürger gegen Ansammlungen von Flüchtlingen wirksam zu schützen“. Er hält es daher „für dringend geboten, von vornherein zu verhindern, dass Flüchtlinge in großer Zahl konzentriert werden“.

Genau das versucht die Stadtverwaltung zu tun: Sie hat 30 Standorte, verteilt aufs ganze Stadtgebiet, ausgewiesen, auf denen Häuser für anerkannte Asylbewerber gebaut oder umgenutzt werden. Eben „damit wir keine Ghettos schaffen“, so Palmer.

Auch die anderen Argumente des Anwalts hält der OB für „nicht rechtskräftig“. Wie auch die Polizei. Eine dauernde Präsenz vor Flüchtlingsunterkünften hält Polizei-Pressesprecher Björn Reusch für überflüssig: „Es gibt keinen Grund dafür. Bei der großen Mehrzahl der Flüchtlinge handelt es sich einfach um Menschen auf der Flucht und nicht um Straftäter.“ Zudem mache die Polizei keinen Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Deutschen: „Wenn ein Bürger die 110 ruft, kommen wir.“ Eine „unstrittig signifikante Zunahme der Kleinkriminalität in der Nachbarschaft von Flüchtlingsheimen“, wie der Anwalt sie zu kennen glaubt, kann Reusch nicht bestätigen. „Die Zahlen gibt es noch gar nicht“, sagt er. Gäbe es aber tatsächlich eine signifikante Zunahme, wäre ihm das aufgefallen. Zudem hält er den Begriff „Kleinkriminalität“ für schwammig: „Was meint der Mann damit?“

Der Anwalt befürchtet auch „zusätzlichen fließenden und ruhenden Verkehr“, was eine „Gefahr für die Sicherheit und Ordnung“ darstelle. Und schließlich stellt er fest, dass die geplante Unterkunft eine „unweigerlich eintretende Wertminderung“ seiner Immobilie darstelle. „Alles haltlos“, sagt Palmer.

Dennoch muss die Stadtverwaltung Argument für Argument widerlegen. Denn der Anwalt äußerte seine Einwände im Rahmen des Genehmigungsverfahrens, in dem unter anderen auch die Anwohner gehört werden. Ein solches Verfahren wird immer dann eingeleitet, wenn ein Gebäude neu erstellt oder umgenutzt wird. Die Gegenargumente müssen dann „formal sauber“ durchgearbeitet und dem Regierungspräsidium als übergeordnete Genehmigungsbehörde vorgelegt werden, wie Palmer sagt.

Der OB ärgert sich über den Aufwand, den seine Mitarbeiter damit haben: „Es ist wahnsinnig anstrengend – wir haben solche Einwände bei wirklich jedem Vorhaben.“

Bei den Informationsveranstaltungen kamen derartige Argumente nicht. Zwar äußerten Bürger, in Derendingen etwa, durchaus Bedenken gegen einzelne Vorhaben. Dabei ging es allerdings um den Verlust eines Parkplatzes oder die übermäßige Belastung eines einzelnen Stadtteils. Befürchtungen, wie der Anwalt sie äußert, wurden nicht genannt. Palmer erklärt das damit, dass sich Bedenkenträger wie der Anwalt, der den Brief schrieb, dem Opportunitätsdruck auf derartigen Veranstaltungen beugen. „Man weiß, dass Tübingen eine ganz klare positive Einstellung zu Flüchtlingen hat, da tritt man nicht öffentlich dagegen auf“, sagt er. „Die Mehrheitsgesellschaft ist nicht gegen Flüchtlinge und hat keine derartigen Bedenken.“ Zu dem Schreiben des Anwalts sagt Palmer: „Manche Leute schämen sich für gar nichts.“

Näheres zu der Unterkunft, um die es geht, und zu dem Anwalt wollte Palmer mit Hinweis auf die gebotene Anonymität während des Verfahrens nicht sagen.