Kolumne

Baumanns Sommernachtsträume: Tempoläufe

In den Ferien erscheint jeden Mittwoch eine Folge von Baumanns Sommernachtsträumen. Hier Teil eins von fünf.

11.08.2021

Von Dieter Baumann

Dieter Baumann, Jahrgang 1965, lief 1992 in Barcelona über 5000 Meter zu Olympiagold und lebt heute als Kabarettist in Tübingen. Bild: Ulmer

Dieter Baumann, Jahrgang 1965, lief 1992 in Barcelona über 5000 Meter zu Olympiagold und lebt heute als Kabarettist in Tübingen. Bild: Ulmer

Ich träume sehr viel. Nach meiner Beobachtung hat das mit dem Laufen zu tun. Der Ablauf ist immer gleich: Tempoläufe am Vormittag, Mittagessen, Mittagsschlaf und dann kommen die Träume. Erst vor wenigen Tagen machte ich oben am Spitzberg Tempoläufe. Winterweg hin, Sommerweg zurück. Start und Ziel auf der Höhe des Ludwig-Uhland-Gedichtes: „Der Wirtin Töchterlein“.

Eine Spaziergängerin sagte einmal zu mir, „das ist auch Lied.“ Nach einer kurzen Pause schob sie noch hinterher: „Ein sehr trauriges“ – „aha“, sagte ich. Die Geschichte der Uhland-Ballade ist schnell erzählt. Drei junge Kerle ziehen in die Welt, kommen in eine Pension, erinnern sich an ein schönes Mädchen und erfahren, dass sie tot ist. Traurig. Natürlich. Wie so viele Gedichte von Ludwig Uhland. Beispielsweise das Gedicht von der Wurmlinger Kapelle, am Ende eine Erinnerung an unsere Vergänglichkeit. Aber sei‘s drum, lassen wir uns von Uhland nicht runterziehen, entscheidend ist doch, dass Tübingen die einzige Stadt in ganz Deutschland ist, die Kultur und Sport zusammen bringt (weiß nur keiner).

Wo sonst gibt es eine Tempolaufrunde, die beim Start und Ziel mit einem Uhlandgedicht markiert ist. Und noch besser, einen Tag später kann es passieren, dass Uhlandchöre aus der ganzen Welt oben am Spitzberg von Uhlandgedicht zu Uhlandgedicht ziehen und das jeweilige Lied anzustimmen. Das müssen Sie einmal erleben! Laufzeiten, Bestzeiten, traurige Lieder. Alles auf einer Runde. Einmalig.

Die Tempolaufrunde misst exakt 3,3 Kilometer. Ich lief sie einmal, zweimal und sogar noch ein drittes Mal. Schließlich handelt das Uhland-Gedicht von drei Burschen, deshalb laufe ich immer für jeden eine Runde. Ja, wenn Kultur nicht in Reimform, dann wenigstens in Topform. Apropos Topform; ich lief jede Runde sogar um 10 Sekunden schneller als die vorherige, was heutzutage selten vorkommt. Meist sind meine Tempoläufe oben am Spitzberg sehr stark an Uhland angelehnt. Sie handeln von „Vergänglichkeit“. Doch bei meinen letzten Läufen, was soll ich sagen? Immer 10 Sekunden schneller!

Auf der dritten und letzten Runde musste ich an, nein, nicht Ludwig Uhland, sondern an Laban Chege denken. Der Seriensieger des Tübinger Stadtlaufes aus Kenia hält nämlich immer noch dort oben am Spitzberg, auf der 3,3-Kilometer-Tempolaufrunde, den Streckenrekord. Ja, damals, im vorherigen Jahrhundert, nahm er mir 5 Sekunden ab, der Sausack. Aber heute, das dachte ich, als ich auf der dritten Runde unterwegs war, heute würde ich ihm mindestens wenn nicht noch mehr abnehmen. Auf jeden Fall wäre es knapp. Wie auch immer, ich war so schnell, dass ich nach der dritten Runde auf den Boden sank und auf dem Rücken liegend nach Luft schnappte. Ich schaute zwar nach oben, bekam aber kaum noch etwas mit. Allenfalls Baumwipfel und Wolkenfelder. Kein Gedicht, Kein Uhland, keine Wirtin, nichts. Nicht einmal vom schönen Töchterlein bekam ich was mit. Einatmen. Ausatmen. Wolkenfelder. Bäume.

Plötzlich schob sich ein Gesicht in mein Sichtfeld. Es war die Spaziergängerin mit den traurigen Liedern: „Herr Baumann, geht es Ihnen gut?“, fragte sie mit besorgte Stimme. „Ja sehen Sie das nicht?“, fragte ich keuchend. „Mir geht es SA-GEN-HAFT-!“ Ich wollte mich nicht von Uhland, den drei jungen Kerlen oder wem auch immer runter ziehen lassen. „Noch nie ist es mir besser gegangen als gerade eben.“ Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und ging nach Hause. Dort aß ich einen Topf Nudeln, legte mich auf mein Sofa und schlief ein.

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Erstellt:
11.08.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 47sec
zuletzt aktualisiert: 11.08.2021, 01:00 Uhr

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