Harmonie von Modernität und Tradition

Backkunst und fehlende Göttin in öffentlichen Toiletten: Gaststudenten entdecken viele Facetten Tübi

Vier Wochen lang lernten knapp 190 ausländische Studierende aus 38 Ländern Deutsch und Landeskunde an der Universität. Außerdem erlebten sie Tübingen und die deutsche Lebensart. Hier beschreiben zehn ihre Eindrücke.

29.08.2016

In Tübingen arbeitet man nicht, anders als in Peking – so die Beobachtung von Zixuan Wen. Deshalb erlebt sie die Stadt als Paradies. Archivbilder: Sommer

In Tübingen arbeitet man nicht, anders als in Peking – so die Beobachtung von Zixuan Wen. Deshalb erlebt sie die Stadt als Paradies. Archivbilder: Sommer

Voriges Jahr war ich schon einmal in Tübingen. Es hat mir gefallen, deshalb bin ich in diesem Jahr noch einmal hergekommen. Aber viele Dinge haben sich seither geändert. Mehr und mehr Flüchtlinge kommen nach Tübingen und das Leben passt sich ihnen an. Ich meine nicht nur die Inschriften auf Arabisch im Freibad, in Geschäften und Cafés, die neuen Wohnungen für Flüchtlinge und die Frauen in für europäische Augen ungewohnter Kleidung.

Ich meine auch die einheimischen Leute, für die das ein neuer Teil des Lebens wurde. Die Deutschen sehen wie früher freundlich und hilfsbereit aus, aber sie sind nicht mehr so entspannt und offen. Nicht nur die Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, müssen sich in das lokale Leben einordnen, sondern auch die Europäer sich in eine für sie neue Umgebung integrieren. Sie gewöhnen sich an die neuen Umstände, die neuen Regeln, die neue Kultur. Sie bemühen sich, ihre Heimat zu teilen, ein Stück von sich selbst jenen Menschen zu geben, die alles verloren haben.

Anastasia Sorokina, Russland

Ich habe schnell bemerkt, dass Bäckereien in der Tübinger Kultur fest verwurzelt sind. In England kaufen die meisten Menschen abgepacktes Brot im Supermarkt. Hier jedoch kaufen viele Menschen, einschließlich der Studenten und der Arbeiter, frühmorgens und jeden Tag frisches Brot, süße Kuchen und leckere Gebäckstücke. Am ersten Tag habe ich meine Mutter angerufen und berichtet: „Die Deutschen essen ihr Brot sehr gerne und ich habe auch noch nie so viele Backwaren von guter Qualität gesehen.“

Außerdem habe ich gemerkt, dass die Bäckereien fast eine Lebensart sind: Alle essen morgens im Bus Brot, das sie vorher gekauft haben. Man stellt schnell die kleineren Unterschiede in Bezug auf den Geschmack der Deutschen und der Engländer fest – typisch für Deutschland sind die pikanten Croissants und Brezeln und auch die sehr frühen Öffnungszeiten. Ich war jedoch überrascht, dass die Bäckereien auch am Sonntag geöffnet waren, das zeigt eine Harmonie von Modernität und älteren Traditionen.

Ich kann feststellen, dass Bäckereien ein wichtiger Teil der deutschen Identität sind, aber besonders gilt das für Tübingen – nirgends sonst kann man sie in jeder Straße sehen!

Bryony Grimes, Großbritannien

An meinem ersten Tag in Tübingen habe ich im Bus gesehen, dass ein Vater sein weinendes Baby im Kinderwagen beruhigte. Er streichelte das Baby auf dem Bauch und seine Stimme klang ganz leise und mild.

In den letzten zwei Wochen habe ich schon mehrmals gesehen, dass Väter sich um ihre Kinder kümmerten. Papas schoben Kinderwagen auf der Straße, im Bus und an anderen Plätzen. Papas spielten im Park mit ihren Kindern mit Seifenblasen. Ein Papa kaufte am Neckar für seine drei Kinder Eiskugeln. Das heißt nicht, dass Frauen keinen Beitrag zur Kinderbetreuung leisten. Ich würde aber sagen, dass Väter in Tübingen eine sehr große Rolle für ihre Kinder spielen.

Tübinger Väter sind verantwortungsvoll und zärtlich. Aus meiner Kindheit habe ich wenige Erinnerungen an meinen Vater. Er war immer beschäftigt und es war Mama, die kochte, einkaufte und mich vom Kindergarten abholte. Es gibt so einen großen Unterschied zwischen den Papas in Tübingen und in China. Es interessiert mich sehr, welche Rolle die Väter in den Tübinger Familien spielen.

Xiatong Song, China

In der Stadt gibt es viel Grünes, das unsere Augen heilt, und viele schöne Frauen, die uns Männer lebendig machen. Auch die Friedhöfe sind wunderschön anzusehen und gut zum Spazieren gehen.

Manchmal aber fühle ich mich hier in Toilettenräumen unwohl, weil die so schmutzig sind, vor allem im Bahnhof oder an öffentlichen Orten, sodass ich ab und zu Ekel fühle.

In Japan sagt man: Im Toilettenraum lebt eine unbeschreiblich hübsche Göttin, und darum muss man ihn immer sauber hinterlassen! Bildnisse von Heiligen können wir überall in Tübingen sehen, aber nicht im Toilettenraum, sodass ich vorschlage, das Bild einer schönen Heiligen an der Wand der Toilettenräume aufhängen zu lassen, denn auch dort kann man sie verehren!

Haruki Saito, Japan

Ich bin zum zweiten Mal Student des Sommerkurses in Tübingen und ich wundere mich wieder darüber, dass sowohl die Fußgängerinfrastruktur als auch die Anlagen für Mobilitätseingeschränkte in der Stadt mit der ziemlich hügeligen Landschaft so entwickelt werden konnten.

Wenn ich zum Bahnhof laufe, bemerke ich, dass mein Koffer überall gerollt werden kann, ohne ihn anheben zu müssen. Die Übergänge zwischen der Verkehrsstraße und der Fußgängerzone haben keine Bordsteine, die Busse haben niedrige Böden. Die öffentlichen Gebäude sind meistens mit Fahrstuhl ausgestattet.

Wenn man auf der Straße auf eine Treppe stößt, ist es immer möglich, eine flache Rampe oder einen anderen Weg zu finden, ohne das Hindernis überwinden zu müssen. Infolgedessen können auch körperlich eingeschränkte Menschen das Leben genießen und ihr Lebensraum wird nicht von den Wänden ihrer Wohnung begrenzt.

Diese fußgängerfreundliche Umgebung motiviert auch die Einwohner der Stadt, sich ohne Auto zu bewegen, weil die Bewegung in der Stadt einfacher und bequemer wird. Es ist wunderbar, dass man sich hier darum kümmert.

Mikhail Volkov, Russland

Jedes Mal, wenn ich in der Altstadt von Tübingen spazieren gehe, wundere ich mich darüber, dass so viele Leute nicht arbeiten. Manche trinken Kaffee im Café oder einfach an der Straße. Ja, anders als in China gibt es in Tübingen viele große Sonnenschirme, Tische und Stühle auf der Straße. Manche Leute unterhalten sich miteinander, andere sitzen nur vor der Stiftskirche, im Gras im alten Botanischen Garten oder auf der Mauer am Neckar. Sie machen nichts, sondern entspannen sich nur.

Im Vergleich zu Peking ist Tübingen wie das Paradies. In Peking laufen die Menschen schnell, um einen Bus zu erreichen und um mehr Geld zu verdienen. In der U-Bahn spricht man auch nicht miteinander, sondern spielt mit dem Handy. Man verbringt die Zeit entweder bei der Arbeit oder mit dem Handy. Nach und nach wird man kühl und einsam. In Tübingen dagegen ist das Leben langsam und warm.

So ein Leben gefällt mir sehr. Hier in Tübingen arbeite ich auch, aber die Zeit außerhalb der Arbeit kann ich selbst organisieren, zum Beispiel etwas Interessantes tun in dieser schönen Stadt oder nur im Gras liegen.

Wie wunderbar!

Zixuan Wen, China

Im Jahr 2014 war ich zum ersten Mal in Tübingen und konnte fast nicht glauben, wie perfekt es hier war. Die Sonne schien, Deutschland war Weltmeister, alles war immer so toll. Deswegen habe ich mich entschieden, so schnell wie möglich zurückzukommen.

Hier kann man alles sein, alles sagen und alles glauben: Hier geht alles und niemand sagt etwas dagegen. Ich war einmal hier im Bus, als da ein interessanter Mann saß. Er trug einen rosa Rock, hörte laute schlechte Tanzmusik und tanzte auf seinem Sitzplatz herum. Was passierte, als die anderen Passagiere ihn bemerkten? Absolut nichts. Sie blieben sitzen und sprachen miteinander. So wäre das in England nicht. Jemand hätte ihn fotografiert oder sich über ihn lustig gemacht oder einfach gesagt: „Hier geht so was nicht, hör auf!“ Aber nicht hier in Deutschland und besonders nicht hier in Tübingen.

Für mich als Überlebende des Brexits ist Tübingen die Verkörperung des Besten von Europa. Diese Stadt verdeutlicht die Gründe, warum Europa noch wichtig ist. Die Ideale von Toleranz und Akzeptanz werden immer wichtiger werden. In Tübingen ist klar, dass die Menschen das verstehen. Wenn mehr Menschen das verstehen könnten, wäre die Welt nicht so gefährlich und voller Angst, wie sie im Moment zu sein scheint. Also vielen Dank, du schöne Stadt – jetzt erinnere ich mich, dass nicht alles so schlecht ist.

Hannah Daglish, Großbritannien

Als ich nach Tübingen abgereist bin, habe ich mich darauf gefreut, richtig deutsches Essen verzehren zu können. Bockwurst. Currywurst. Bratwurst. Kartoffelsalat. Ofenkartoffeln. Das alles finde ich sehr, sehr gut.

Groß war dann auch meine Enttäuschung, als eine Gaststätte nach der anderen nur italienisches Essen im Angebot hatte. Ich konnte es fast nicht glauben. Ich war schon oft in Berlin und Nordrhein-Westfalen, wo man in jeder Kneipe oder jedem Imbiss gutbürgerliches deutsches Essen bestellen kann.

So. Was war denn los hier in Tübingen? Nach einiger Suche fand ich einige Gaststätten im Zentrum, aber nicht genau das, was ich suchte. Auch in der Nähe von Tübingen gab es nur Gaststätten, in denen man nach der Karte essen konnte. Erst nach zwei Wochen habe ich die erste Bratwurst gegessen. Nicht in Tübingen, sondern in Würzburg.

Dann, endlich, nach fast einer weiteren Woche hat mir ein Mitschüler einen echten Imbiss im Zentrum gezeigt. Nach der ganzen Pizza, Pasta und den vielen Salaten kann ich da endlich Bratwurst, Currywurst und Kartoffelsalat genießen.

Marije Bakker, Niederlande

Vergangenheitsbewältigung war das erste deutsche zusammengesetzte Substantiv, das ich gelernt habe. Für mich ist es ein schönes Wort, ein wichtiger und ergreifender Begriff. Es konnotiert Verständnis, Reue, Vergebung und Akzeptanz, aber es bedeutet vor allem Hoffnung.

Ich studiere seit zwei Jahren Französisch und Deutsch an der Durham Universität. In dieser Zeit habe ich viel über die nationale deutsche Identität gelesen. Ich habe gelernt, dass die Geschichte Deutschlands eine Geschichte der politischen und sozialen Fragmentierung ist. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es in Deutschland Denkmäler, die Schuld symbolisieren. Ich finde das absolut herzzerreißend.

Deshalb interessiere ich mich wirklich für die Orte in Tübingen, die an den Nationalsozialismus erinnern. Für mich repräsentieren sie zweifellos die Akzeptanz der Vergangenheit. Folglich geben sie Menschen aus allen Ländern der Welt die Gelegenheit, etwas zu lernen. Ohne Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit (und ich meine die Fehler von allen Ländern) wäre es unmöglich, sich zu verbessern. Diese Orte sind einfach eine Quelle der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Emily Grace Walters, Großbritannien

Tübingen, meine Liebe

Tübingen, mein Schatz,

du bist die schönste Stadt,

hier ist Natur immer nah,

es gibt Schönheit in jedem grünen

Blatt.

Tübingen, meine Süße,

du bist so schön und klein,

ich kann die anderen nicht

vermeiden,

also trinke ich so viel Wein.

Tübingen, mein Darling,

hier ist die Wiederverwertung

so leicht,

sogar das Essen in der Mensa,

ist dem der letzten Woche gleich.

Tübingen, meine Seelenfreundin,

es gibt immer Falafel nah,

neben jedem Supermarkt

und draußen in jeder Bar.

Tübingen, meine Perle,

hier gibt’s den Linie-Fünf-Bus,

sogar in der Nacht,

immer kommt er zum Schluss.

Tübingen, meine Liebe,

du bist immer in unseren Herzen,

und wenn wir auseinander sind,

wird meines immer schmerzen.

Indigo Edwards, Großbritannien

Bryony Grimes aus Großbritannien liebt die deutsche Backkunst und Bäckereikultur. Archivbild: Mozer

Bryony Grimes aus Großbritannien liebt die deutsche Backkunst und Bäckereikultur. Archivbild: Mozer

Allgemeingültiges namenloses Tübinger Graffito.

Allgemeingültiges namenloses Tübinger Graffito.

Anastasia Sorokina

Anastasia Sorokina

Bryony Grimes

Bryony Grimes

Marije Bakker

Marije Bakker

Emily G. Walters

Emily G. Walters

Hannah Daglish

Hannah Daglish

Mikhail Volkov

Mikhail Volkov

Backkunst und fehlende Göttin in öffentlichen Toiletten: Gaststudenten entdecken viele Facetten Tübi
Xiatong Song

Xiatong Song

Haruki Saito

Haruki Saito

Zixuan Wen

Zixuan Wen

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Erstellt:
29.08.2016, 10:58 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 21sec
zuletzt aktualisiert: 29.08.2016, 10:58 Uhr

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