Mediendozentur mit Juli Zeh im Festsaal der Universität Tübingen.

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Mediendozentur mit Juli Zeh im Festsaal der Universität Tübingen.  Bild: Metz
Mediendozentur mit Juli Zeh im Festsaal der Universität Tübingen.
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Mediendozentur mit Juli Zeh im Festsaal der Universität Tübingen.  Bild: Metz
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Mediendozentur: Wider den Hausmeister Internet

Autorin Juli Zeh sieht Ursache vieler gesellschaftlicher Missstände im „Turbo-Ich“

Einen außergewöhnlichen Abend in vielerlei Hinsicht erlebten die 1200 Zuhörer am Donnerstag in der Neuen Aula der Tübinger Universität. Noch nie waren mehr zur Mediendozentur der Medienwissenschaftler und des Südwestrundfunks gekommen.

13.07.2018

Von Gernot Stegert

Der Festsaal war voll, sogar auf der Bühne saßen viele Dutzende, in den Audimax wurde übertragen. Der Name der Schriftstellerin Juli Zeh zog. Noch nie aber mussten die Neugierigen auf einen Gast warten, schon gar nicht so lange. Sie erlebten eine Zeit der Entschleunigung ausgerechnet vor einem Vortrag über „Das Turbo-Ich“.

Um 18.30 Uhr sollte es losgehen, um 19.50 Uhr betrat Juli Zeh – in Jeans und Ringelpullover – endlich den Festsaal. Sie reckte gequält lächelnd beide Arme in die Höhe wie eine Sportlerin, die eine Höchstleistung vollbracht hat. Und das hatte sie auch: 14 Stunden Fahrt von Brandenburg – erst hatte sie ein Zugausfall in Mannheim lange aufgehalten, dann raubten Staus im Taxi ihre Nerven. Sportlich nahmen auch die Gäste das lange Warten. Die Veranstalter hatten geholfen: Sie hatten den kleinen Empfang vorverlegt.

Als Prof. Bernhard Pörksen die Begrüßung beginnen wollte, versagte das Mikrophon. Es war nicht die einzige technische Panne (siehe Info-Box). Als es wieder ging, löste der Kommunikationsexperte die Stimmung mit den Sätzen: „Tübingen steht für seine Mikrophon-Toleranz. Tübingen steht für innere Heiterkeit auch in Momenten äußerer Widrigkeit.“ In seiner gekürzten Einführung stellte Pörksen die Romanautorin, Publizistin und promovierte Juristin als „Gesellschaftstheoretikerin mit literarischen Mitteln“ vor. Ihr gelinge angesichts vielfältiger Umbrüche eine „Sprache der Zeitdiagnostik“.

Ob Literatur oder Gesellschaft: Es gebe nicht mehr den allwissenden Erzähler, begann die viel gelesene und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Es gebe stets viele Perspektiven. Alte Zugehörigkeiten wie Familie, Religion, Partei oder Geschlecht hätten an Bedeutung verloren. „Sie waren ein Filter, der die Welt ordnet.“ Sie hinterließen Leerstellen. An ihre Stelle träten Algorithmen im Internet, die jedem seine Welt vorgaukeln, – und das „Turbo-Ich“. Mit der Wortschöpfung überschrieb Zeh ihre eigene Anthropologie, die sie dann entfaltete.

Je weniger Bindung, desto mehr muss das menschliche Ich leisten. Es suche sein Heil in der Selbstfindung („Man schaut in sich selbst, ob jemand da ist“) und überfordere sich. Zeh sprach von einer „grenzenlosen Mästung“ und „Überdehnung“ des Ich: „Das ist die Conditio humana im Medienzeitalter.“ Der Turbo bestehe nicht in einer Beschleunigung, sondern in der Überforderung, im unmöglich zu erfüllenden Leistungsanspruch. Das sei „die tragische Seite der Befreiung“.

Juli Zeh sorgte bei der Tübinger Mediendozentur am Donnerstagabend für einen vollen Festsaal. Bild: Metz

Juli Zeh sorgte bei der Tübinger Mediendozentur am Donnerstagabend für einen vollen Festsaal. Bild: Metz

Der Mensch erlebe die Welt aus der Sicht seiner Bedürfnisse. Das heize den Konsum an, habe aber Auswirkungen auf die Demokratie: „Turbo-Ichs lesen Parteiprogramme wie Speisekarten.“ Demokratie sei aber Teilhabe. Zeh selbst widersteht dem Trend übrigens: Sie ist vor der Bundestagswahl in die SPD eingetreten und noch nicht wieder ausgetreten.

Das Turbo-Ich brauche ständig Aufmerksamkeit und Glück. „Was uns am Ende der Aufklärung begegnet, ist ein infantiles Ich“, sagte die 44-Jährige. Der Ausweg aus der Unmündigkeit vor der Aufklärung führe in eine neue Unmündigkeit. Politisch passe dazu „ein ganzes System mit Mutti an der Spitze“.

Das schutzlose Turbo-Ich entwickle Ängste, das sei Ursache für die große Gereiztheit im Umgang, die Fremdenfeindlichkeit und den Selbstoptimierungswahn, der eine „totalitäre Gewalt auf den Körper“ ausübe. So erkläre sich das Phänomen: „Menschen, denen es objektiv sehr gut geht, geht es subjektiv sehr schlecht.“

Dann setzte die Autorin zum Bashing, wie sie selbst sagte, von Medien und Politik an. In den traditionellen Medien gebe es zu viel „Selfie-Journalismus“. Das heißt: Meinungen von prominenten Journalisten würden objektive Berichterstattung ersetzen. Auch sähen viele Medien Entwicklungen zu negativ. Und das Misstrauen, das Unterstellen von Fake News? Zeh gab sich optimistisch, dass Fakten auf Dauer überzeugen.

Das Internet passe perfekt zum Turbo-Menschen, so Zeh. Denn im Netz werde jeder persönlich angesprochen und könne sich mitteilen. „Das Internet ist eine Ich-Maschine, der große Ich-Generator.“ Statt Individualität entstehe aber durch Bewertungen und Kommentare Konformismus. „Das Internet ist ein Hausmeister.“ Das sei Gift für die liberale Demokratie.

Die Politiker warnte Zeh davor, sich bei den Turbo-Ichs anzubiedern: „Augenhöhe ist nichts anderes als ein Kniefall.“ Es sollte nicht zu viel versprochen werden, überhaupt sollte Politik sich nicht in die Rolle des Wunscherfüllers zwängen lassen. Plakativ forderte Zeh: „Weg mit der Bürgernähe!“ Und auch, unter lautem Beifall der Tübinger: „Weg mit den Facebook- und Twitter-Accounts der Politiker!“ Sie würden Politik und Privates vermengen und so die schädliche Subjektivität fördern.

Die Mutter zweier kleiner Kinder plädierte für Grenzen: „Kinder brauchen Grenzen, Turbo-Ichs auch.“ Etwa die zwischen öffentlich und privat bei Politik und Journalismus oder die zwischen Ich und Du: „Die Freiheit des einen endet bei der des anderen.“ Die Buchautorin wurde zur Gesellschaftsautorin, als sie eine „Ausrichtung an überindividuellen Werten“, an Zugehörigkeiten empfahl. Egal, ob man diese Heimat, Deutschland, Europa oder Grundgesetz nenne. Sie dürften nicht den Rechten überlassen werden. „Demokratie braucht keine Turbo-Ichs, sondern Grundsätze“, sagte Zeh und verbeugte sich vor den Zuhörern. Die applaudierten lange und teils stehend.

Vor allem Studierende nutzten dann noch die Gelegenheit, von SWR-Studioleiter Andreas Narr moderierte Fragen zu stellen. Um 21.15 Uhr war Juli Zeh nach einem Turbo-Tag dann froh, von der Bühne gehen zu können.

Politisches Frühstück, Technik-Pannen und Hinweise

Vater: Zur Rede waren die Eltern gekommen. Sie wohnen zwischen Balingen und Rottweil. Wolfgang Zeh hat in Tübingen in den 1960er Jahren Jura studiert und wurde später Bundestagsdirektor in Bonn. Mit Politik sei Juli am Frühstückstisch aufgewachsen, sagte der Vater dem TAGBLATT.

Technik: Mehrfach fielen Mikrophone aus, die Lautsprecher auf der Empore funktionierten nicht. Ein Hörspiel-Einspieler von Juli Zeh war kaum zu verstehen, auf weitere verzichtete sie dann. Verantwortlich waren weder Medienwissenschaftler noch SWR. Fazit vieler beim Rausgehen: Die Universität sollte sich für den Festsaal eine exzellente Technik leisten.

Nachhören: Campus TV übertrug die Rede im Live- Stream. Dieser ist unter SWR.de/Tübingen nachzuhören. Im Hörfunk läuft die Rede in „SWR Aktuell Radio“ am 21. Juli von 17 bis 18 Uhr und am 22. Juli von 10 bis 11 Uhr.

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Erstellt:
13.07.2018, 19:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 01sec
zuletzt aktualisiert: 13.07.2018, 19:00 Uhr

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