Abstimmung per Briefwahl

Bundestagswahl: Ausnahme wird zur Regel

So viele Menschen wie nie zuvor wollen per Briefwahl abstimmen. Das ist nicht unproblematisch. Die Sorge vor Betrug ist Experten zufolge aber unbegründet.

16.09.2021

Von André Bochow & Ellen Hasenkampf

In den Wahlämtern herrscht Hochbetrieb. Hier werden die per Briefwahl eingegangenen Stimmzettel sortiert. Foto: Sina Schuldt/dpa

In den Wahlämtern herrscht Hochbetrieb. Hier werden die per Briefwahl eingegangenen Stimmzettel sortiert. Foto: Sina Schuldt/dpa

Nicht zuletzt wegen Corona wird ein neuer Briefwahl-Rekord bei der Bundestagswahl erwartet. Es gibt Bedenken, das Verfahren könnte zu Verzögerungen bei der Auszählung kommen oder nicht sicher sein. Fragen und Antworten zu dem Phänomen.

Wie geht das mit der Briefwahl? Zunächst einmal: Die Entscheidung, per Brief wählen zu wollen, muss nicht begründet werden. Wer dies wünscht, beantragt bei der Gemeinde die Unterlagen und erhält einen Wahlschein und einen Stimmzettel. Laut Bundeswahlleiter kann der Antrag „entweder persönlich oder schriftlich (zum Beispiel per Brief, E-Mail oder bei vielen Gemeinden über deren Internetseite)“ gestellt werden. „Häufig stehen auf Wahlbenachrichtigungen auch persönliche QR-Codes zur Beantragung per Handy.“ Absolut letzter Termin für den Antrag ist der 24. September um 18.00 Uhr. Wer sich so spät entscheidet, muss die Unterlagen aber selbst abholen.

Gewählt wird laut Bundeswahlleiter „persönlich und unbeobachtet“. Dann ab mit dem Stimmzettel in den blauen Stimmzettelumschlag, zukleben, die eidesstattliche Erklärung auf dem beigefügten Wahlschein unterschreiben, dann alles zusammen in den roten Wahlbriefumschlag, auch den zukleben und in die Post geben oder bei der auf dem Umschlag angegebenen Stelle direkt abliefern. In jedem Fall muss der Brief spätestens am 26. September um 18 Uhr zum Auszählen vorliegen. Wer aus Deutschland schreibt, muss keine Briefmarke aufkleben. Für Post aus dem Ausland gilt das übliche Porto.

Gibt es Bedenken gegen die Briefwahl? Allerdings. Sogar verfassungsrechtliche. Das Grundgesetz schreibt in Artikel 38 eine allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl vor. Umstritten ist, ob diese Grundsätze in den eigenen vier Wänden eingehalten werden können, wenn zum Beispiel für die bettlägerige Großmutter ohne deren Wissen das Kreuz durch die pflegenden Angehörigen gesetzt wird. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages verweist in einem Gutachten auf das Bundesverfassungsgericht: Es habe in mehreren Entscheidungen festgestellt, „dass die Briefwahl die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit einschränkt“. Trotzdem hätten die Richter immer wieder Ja zur Briefwahl gesagt, weil sie dem Ziel diene, „eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit Rechnung tragen“. Mit anderen Worten: Dass so viele wie möglich wählen, ist Karlsruhe wichtiger als die mögliche Verletzung der anderen Wahlgrundsätze. Verfassungsrechtler gehen davon aus, dass diese Toleranz gegenüber der Briefwahl nur gilt, solange sie der Ausnahmefall ist. Sollte die Ausnahme die Regel werden, könnte es eine rechtliche Neubewertung geben.

Mehr als 40 Prozent wollen per Brief wählen

Es wird mit einem Briefwahlrekord gerechnet. Warum? Umfragen zufolge wollen rund 40 Prozent von der Briefwahl Gebrauch machen. Ein wichtiger Grund ist die Pandemie. Tatsächlich lag bei Landtags- und Kommunalwahlen in den letzten eineinhalb Jahren der Anteil bei teilweise über 50 Prozent. Ein anderer Grund ist, dass die Menschen flexibel bleiben wollen.

Ist die Wahl dann nicht schon gelaufen? Das nicht, aber begonnen hat die Bundestagswahl natürlich längst. Ganz Eilige haben schon vor Wochen abgestimmt. Der Politikwissenschaftler Uwe Jun weist darauf hin, dass ein „nicht unerheblicher Teil“ der Briefwähler abwartet, und „dass unter den unentschlossenen Wählern nicht wenige sind, die am Wahlsonntag ins Wahllokal gehen“. Genau diese noch Unentschiedenen seien es aber, „die angesichts der recht knappen Abstände zwischen den Parteien die eine oder andere wichtige Verschiebung ausmachen können“.

Fließen bereits abgegebene Briefwahlstimmen in Wahlumfragen ein? Ob das erlaubt ist, bildet den Kern des juristischen Streits zwischen dem Bundeswahlleiter und dem Umfrageinstitut Forsa. Dem Institut wurde eine Geldbuße angedroht, wenn es weiter Briefwähler mitzählt, die ihre Stimme schon abgegeben haben. Der Bundeswahlleiter verweist auf das Wahlgesetz. Dort heißt es: „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“ Forsa-Chef Manfred Güllner hält dagegen, die Angaben der Briefwähler würden nicht gesondert ausgewiesen. „Würden wir die Entscheidungen der Briefwähler rauslassen, wäre das Umfrageergebnis schief, weil beispielsweise die Wähler der AfD häufiger an der Urne wählen.“

Sorgen die vielen Briefwähler für Verzögerungen beim Auszählen am Wahlabend? Laut Bundeswahlleiter Georg Thiel nicht. Im Interview mit dieser Zeitung versicherte er schon im Januar, es werde auch diesmal ein vorläufiges amtliches Endergebnis „in den frühen Morgenstunden“ geben. Allerdings ist die Auszählung der Briefwahlstimmen „arbeitsintensiver“, weil erst die Umschläge geöffnet werden müssen.

Sind Briefwahlen sicher? Der Bundeswahlleiter sagt ja. Dennoch hat insbesondere das Auszählungs-Chaos bei der US-Präsidentschaftswahl Misstrauen geweckt. Professor Jun betont allerdings, dass die Auszählung in Deutschland anders organisiert ist: „Sie werden im jeweiligen Wahllokal zusammen mit den übrigen Stimmen und übrigens ebenfalls erst ab 18 Uhr am Wahlsonntag ausgezählt.“ Um Wahlbriefe auf dem Weg dorthin abzufangen und zu verändern, wäre „viel kriminelle Energie und ein deutliches Versagen der Post“ nötig. Wahrscheinlich sei das nicht.

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